RECHT UND KAPITALMARKT

Entschlackung der Hauptversammlung tut not

Praxis lässt verbessern - Beschlusskontrolle durch Anfechtungsklagen steht rechtspolitisch nicht grundsätzlich zur Debatte

Entschlackung der Hauptversammlung tut not

Von Andreas Austmann *)Stellen Sie sich folgende geläufige Situation vor: Der Vertreter eines ausländischen Fonds besucht die Hauptversammlung einer großen börsennotierten deutschen Aktiengesellschaft. Er vertritt dort Aktien im Umfang von, sagen wir, 2 % des Grundkapitals. Was erlebt er im Laufe eines langen Tages?Zunächst trifft er auf hunderte, zuweilen tausende von privaten Kleinaktionären, deren Zeiteinsatz in keinem Verhältnis zu ihrem Aktienbesitz steht. Sodann hört er lange Ausführungen der Verwaltung, zunächst des Aufsichtsratsvorsitzenden, dann des Vorstandschefs. Nicht selten dauert es zwei Stunden, bevor die Generaldebatte beginnt. Diese besteht zumeist aus einer rituell anmutenden Abfolge von Rede- und Fragerunden der Aktionäre sowie Antwortrunden des Vorstands, zieht sich über viele Stunden hin und ist recht ermüdend. Nur kein spontaner DialogDas Format wird diktiert vom verständlichen Bestreben der Gesellschaft, Gründe für eine spätere gerichtliche Anfechtung der Hauptversammlungsbeschlüsse wegen angeblich unzureichender Antworten zu vermeiden. Deshalb werden die Fragen der Aktionäre von Stenografen wörtlich aufgenommen und von Expertenteams im Backoffice sorgfältigst beantwortet. Justiziare und Rechtsberater sehen es nicht gerne, wenn die Vorstandsmitglieder beim Antworten von dem vorformulierten Text abweichen oder gar, horribile dictu, in einen spontanen Dialog mit einem Aktionär eintreten, dessen Gehalt weder juristisch abgesichert noch für Beweiszwecke festgehalten werden kann.Als Folge der permanenten Drohung der Beschlussanfechtung ist die Aussprache in der Hauptversammlung zu einer Pflichtübung geworden, die gestandenen Unternehmenslenkern unwürdig und fast allen anderen lästig ist. In der letzten Stunde macht die Hauptversammlung dann das, wozu sie eigentlich einberufen wurde: Sie fasst Beschlüsse. Meistens kann man diese in der Wirtschaftspresse des nächsten Morgens nicht nachlesen, weil die Versammlung bei Redaktionsschluss noch andauerte. Mit AugenmaßWenn der Fondsverwalter aus den USA kommt, kennt er vielleicht die Hauptversammlung von Berkshire Hathaway, die einschließlich Beschlussfassung eine Stunde dauert. Daran anschließend steht Warren Buffett den Aktionären mehrere Stunden lang für einen informellen Gedankenaustausch zur Verfügung. Auch in den meisten anderen westlich geprägten Industriestaaten ist der Dialog mit den Anteilseignern formfreier, weil rechtlich von keiner oder nur geringer Bedeutung für die Beschlussanfechtung.Um keine falschen Hoffnungen zu wecken: Für Deutschland ist dies derzeit keine Option. Die Beschlusskontrolle durch Anfechtungsklage der Aktionäre – und in diesem Zusammenhang das Auskunftsrecht – steht rechtspolitisch auf absehbare Zeit nicht grundsätzlich zur Diskussion. Im Gegenteil: Mit ihrer Aktionärsrechterichtlinie schreibt die EU den Mitgliedstaaten gerade das deutsche Modell ins Stammbuch.Es ist deshalb einstweilen im bestehenden System nach Möglichkeiten zu suchen, die Praxis der deutschen Hauptversammlung zu verbessern. Es gibt sie. Man muss sie allerdings konsequent und mutig nutzen. Und die Gerichte werden auch eine gewisse Robustheit honorieren, wenn diese mit Augenmaß gepaart und vom ehrlichen Bemühen getragen ist, den berechtigten Anliegen der Aktionäre gerecht zu werden.Bei der Entschlackung der Hauptversammlung kann der Versammlungsleiter, meistens der Aufsichtsratsvorsitzende, mit gutem Beispiel vorangehen. Er sollte eine Hauptversammlung, die auf 10 Uhr einberufen ist, auch um 10 Uhr eröffnen. Es gibt keinen zwingenden Grund, eine Viertelstunde zu warten, weil noch so viele Aktionäre durch Demonstrationen vor dem Versammlungssaal oder die Eingangskontrolle aufgehalten werden. Aktionäre wissen ganz genau, dass man bei einer Großveranstaltung mit Zeitverzögerungen am Einlass rechnen und deshalb rechtzeitig vor Ort sein muss. Bei einem Fußballspiel oder einem Popkonzert verhalten sie sich jedenfalls entsprechend, und zwar klaglos.Ferner sollten die Leitfäden, die der Versammlungsleiter meistens wörtlich verliest, gründlich von Überflüssigem und Redundantem gereinigt werden; dadurch lässt sich die nächste Viertelstunde einsparen. Unbedingt abschaffen sollte man den schlechten Brauch, das Abstimmungsprozedere am Anfang der Hauptversammlung zu erläutern. Ein paar Stunden später, bei Beginn der Abstimmungen, muss der Versammlungsleiter die Erläuterungen nämlich wiederholen, weil viele Aktionäre die komplizierten Anweisungen wieder vergessen haben und etliche Aktionäre später hinzugekommen sind.Wenn dann der Vorstandsvorsitzende, wie inzwischen vielfach gefordert, seine Rede auch noch auf höchstens 30 Minuten beschränkt, kann die Generaldebatte schon nach etwa 45 Minuten beginnen. Dies setzt allerdings voraus, dass der Aufsichtsratsvorsitzende textlich bereits vorliegende Berichte, insbesondere den Aufsichtsratsbericht und den Vergütungsbericht, nicht auch noch mündlich erläutert. Er darf auf die Erläuterung verzichten, wenn sich seit Veröffentlichung nichts Berichtenswertes ereignet hat und kein Aktionär in der Hauptversammlung auf dem mündlichen Report besteht. Ich selbst habe noch nicht erlebt, dass Aktionäre erpicht darauf sind, dasjenige noch einmal mündlich präsentiert zu bekommen, was sie bereits auf der Internetseite der Gesellschaft nachlesen konnten.Der Versammlungsleiter sollte den Aktionären von vornherein kein Schwadronieren erlauben, Ausflüge in allgemeine wirtschaftliche und politische Themen unterbrechen und Redebeiträge sowie Fragen immer wieder auf die anstehenden Beschlussgegenstände zurückführen. Die Betroffenen mögen das lästig finden, aber die ganz große Mehrheit der Aktionäre wird es dankbar aufnehmen. Ohne ZeitverzugDie Plätze auf der Rednerliste dürfen nach dem voraussichtlichen sachlichen Gewicht der Beiträge zugeteilt werden. Meistens kennt die Gesellschaft ihre Pappenheimer. Wiederholungen, seien es Stellungnahmen oder Fragen, brauchen nicht geduldet zu werden. Um juristisch abgesicherte Leitungsmaßnahmen ohne Zeitverzug umsetzen zu können, darf der Aufsichtsratsvorsitzende, der ja Versammlungsleiter nur im Nebenamt ist, entgegen der traditionellen Sitzordnung auf der Bühne den anwaltlichen Coach direkt neben sich platzieren. Natürlich sollten auch die Antworten des Vorstands knapp und präzise ausfallen, und die Mitarbeiter und Berater im Hintergrund sollten zu diesem Zweck mehr Zeit darauf verwenden, den Sinn einer Frage zu erfassen, als nach einer am Ende doch nicht passenden Konserve im Antwortenbestand zu suchen.Es hilft auch, wenn man die Antworten von vornherein möglichst vollständig erteilt und sich die Details nicht in mehreren Fragerunden buchstäblich aus der Nase ziehen lässt. Sonst ist der Eindruck, dass der Vorstand bei der Informationserteilung mauert, kaum noch zu widerlegen – übrigens auch nicht im Anfechtungsprozess. Weg von der ZettelwirtschaftEine gewisse Lebendigkeit lässt sich bei gleichbleibender juristischer Absicherung dadurch erreichen, dass die Vorstandsmitglieder die Antworten auf Bildschirmen angezeigt bekommen anstatt, vom Saal aus gut sichtbar, mit Antwortzetteln versorgt zu werden. Die heute überwiegend noch gepflegte Zettelwirtschaft unterstreicht nur unnötig die Fernsteuerung der Bühne durch das Backoffice. Auch verteilte Antwortrollen unter den Vorstandsmitgliedern lockern auf; der Vorstandsvorsitzende muss nicht alles allein tun.Wenn die Gesellschaft dann noch ein zügiges Abstimmungsverfahren wählt und der Versammlungsleiter die gesetzlichen Möglichkeiten der verkürzten Beschlussfeststellung konsequent nutzt, könnten fast alle Hauptversammlungen um einige Stunden verkürzt werden und es könnte häufig sogar die Anregung des Deutschen Corporate Governance Kodex verwirklicht werden: ein Ende nach vier bis sechs Stunden. Unser ausländischer Fondsverwalter wäre weniger konsterniert.—-*) Dr. Andreas Austmann ist Partner bei Hengeler Mueller in Düsseldorf.