Es ist Zeit für eine Modernisierung des Betriebsverfassungsrechts
Von Claudia Rid *)Zu Beginn des Jahres 2020 – noch vor dem Höhepunkt der Corona-Pandemie – wurde das Betriebsverfassungsrecht 100 Jahre alt. Einst revolutionär, weil es Betriebsräten Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte in personellen und sozialen Angelegenheiten eingeräumt hat, ist es in Zeiten der Digitalisierung und neuer Arbeitsformen auf den Prüfstand zu stellen. Das haben nicht zuletzt durch die Coronakrise eingeführte Homeoffices oder digitale Meetings sichtbar gemacht.Die Arbeitswelt 4.0 hat viele Facetten: Der Betriebsbegriff erodiert. Arbeitnehmer haben nicht nur einen Vorgesetzten, sondern mehrere, und diese müssen nicht zwingend im selben Unternehmen sitzen. Die Kommunikation in diesen Matrixstrukturen erfolgt oft digital. Praktisch jedes neue Arbeitsmittel arbeitet mit Software, die personenbezogene Daten verarbeitet und so zur Mitarbeiterüberwachung geeignet ist. Der zuletzt 2001 reformierte gesetzliche Rahmen der Mitbestimmung wirkt veraltet.Das BetrVG stammt aus dem analogen Zeitalter. Es definiert den Betriebsbegriff nicht, sondern setzt ihn voraus. Weil die Konturen des Betriebs immer mehr verschwimmen, kommt es vermehrt zu Rechtsunsicherheit. Für Aufsehen und Kritik sorgte 2019 in diesem Zusammenhang eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Danach ist die Übertragung von Führungsaufgaben auf einen betriebsfremden Angehörigen in Matrixorganisationen eine zustimmungspflichtige Einstellung in allen Betrieben von Arbeitnehmern, für die die Führungskraft zuständig ist. Offen ist, ob diese Rechtsprechung auf die Mitbestimmung bei Kündigungen ausgeweitet wird.Beim Einsatz von IT-Tools hat der Betriebsrat mitzureden: Software, die dazu bestimmt ist, Leistung und Verhalten von Arbeitnehmern zu überwachen, ist genehmigungspflichtig. Seit 1975 judiziert das BAG entgegen dem Gesetzeswortlaut, es reiche aus, dass die technische Einrichtung zur Überwachung nur “objektiv und unmittelbar geeignet” ist, sie muss dafür nicht “bestimmt” sein. Das ist in der vernetzten Arbeitswelt 4.0 fast bei jeder technischen Anwendung der Fall. Verweigert der Betriebsrat die Zustimmung, muss das Unternehmen in einem langwierigen Verfahren den Spruch einer Einigungsstelle erwirken. Wird dieser gerichtlich angefochten, muss vor deren Einsatz der rechtskräftige Abschluss des Verfahrens abgewartet werden. Damit braucht man für die Implementierung einer Digitalisierungsstrategie faktisch das Okay des Betriebsrats. Daher sollte das Mitbestimmungsrecht wieder auf seinen Wortlaut zurückgeführt werden. Ähnlich zeitintensiv ist der Prozess bei Betriebsänderungen, wie der Einführung grundlegend neuer agiler Arbeitsmethoden. Arbeit-von-morgen-GesetzEbenso anachronistisch wirkt, dass der Betriebsrat Beschlüsse in Präsenzsitzungen fassen muss. Entscheidungen per Videokonferenz oder Skype sind unwirksam – dies ist alles andere als zeitgemäß. In Zeiten von Ausgangsbeschränkungen während der Corona-Pandemie rächt sich dies. Um die Arbeitsfähigkeit von Betriebsräten und weiteren betrieblichen Mitbestimmungsgremien sicherzustellen, hat der Gesetzgeber daher im Rahmen des Arbeit-von-morgen-Gesetzes vom 15. Mai 2020 coronabedingte Sonderregelungen für die betriebliche Mitbestimmung geschaffen, die bis 31.1.2021 befristet sind. Danach dürfen Betriebsräte ihre Beschlüsse per Telefon oder Videokonferenz fassen und auf eine Präsenzsitzung verzichten. Entsprechendes gilt für den Wirtschaftsausschuss und die Einigungsstelle. Auch Betriebsversammlungen dürfen über Videokonferenzen durchgeführt werden. Es wäre ein wichtiger Schritt, diese Ausnahmeregelungen dauerhaft beizubehalten.Das BetrVG fußt auf vertrauensvoller Zusammenarbeit der Betriebsparteien. Es kann gelingen, die Herausforderungen der Arbeitswelt 4.0 zu meistern. Aus Unternehmenssicht ist dabei hilfreich, die Perspektiven der Arbeitnehmer zu verstehen und zu berücksichtigen. Mit einem kooperativen Betriebsrat kann man konkrete Verfahrenslösungen für künftige Veränderungsprozesse vereinbaren. Für den Weg in die Arbeitswelt 4.0 werden so gemeinsam Leitplanken aufgestellt. Ein Zeitplan für die einzelnen Prozessphasen ermöglicht dem Unternehmen, nach Zeitablauf handlungsfähig zu sein. Ein Vorratssozialplan kann die wirtschaftliche Absicherung derer regeln, die nicht mitmachen wollen oder, trotz Qualifizierungsangebots, können. Hier gilt oft das Prinzip “Zeit gegen Geld”. Je generöser der Sozialplan, umso sicherer wird die Umsetzung durch den Betriebsrat unterstützt. Die Betriebsparteien können zudem eine dauernde Einigungsstelle zu IT-Fragen einrichten. Dies wird oft kombiniert mit der Absprache, neue technologische Lösungen vorläufig in Betrieb zu nehmen (Pilotbetrieb). Digitaler Wandel gegen den Widerstand der Arbeitnehmervertretung ist kaum vorstellbar. *) Dr. Claudia Rid ist Partnerin und Rechtsanwältin der Wirtschaftskanzlei CMS in Deutschland. Sie begleitet in- und ausländische Unternehmen im Rahmen von Umstrukturierungen und Outsourcing-Projekten.