Recht und Kapitalmarkt - Interview mit Alexius Leuchten

"Für Beibehaltung der Tarifeinheit muss das Grundgesetz geändert werden"

Nach der gravierenden Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

"Für Beibehaltung der Tarifeinheit muss das Grundgesetz geändert werden"

– Herr Dr. Leuchten, das Bundesarbeitsgericht hat den seit Jahrzehnten geltenden Grundsatz der Tarifeinheit – ein Betrieb, ein Tarifvertrag – gekippt. Man hört oft, dass das Urteil zu einem Tarifchaos führen könne. Ist das so?Die Unternehmen müssen unter Umständen pro Betrieb plötzlich mehrere Tarifverträge gleichzeitig managen. In einem Betrieb werden unterschiedliche tarifliche Arbeitsbedingungen für die verschiedenen Mitarbeiter gelten, insbesondere bei Vergütung und Arbeitszeit. Große Probleme stellen sich zum Beispiel dann, wenn in einem Betrieb Schichtarbeit geleistet wird. Gelten für Arbeitnehmer unterschiedliche wöchentliche Arbeitszeiten oder können beispielsweise nicht alle Mitarbeiter aufgrund der jeweils einschlägigen Tarifverträge in gleichem Umfang zu Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit herangezogen werden, sind Schichtmodelle kaum noch durchführbar.- Besteht daneben auch ein erhöhtes Streikrisiko?Die größten Probleme werden tatsächlich im Arbeitskampfrecht auftreten. Sobald mit dem DGB konkurrierende Gewerkschaften – das Beispiel der Lokomotivführer als Funktionselite bei der Deutschen Bahn sei in Erinnerung gebracht – hinreichend Mitglieder der jeweiligen Funktionselite hinter sich gebracht haben, können sie als Inhaber von Schlüsselstellungen Großunternehmen zwingen, mit ihnen unter Streikandrohung eigene Tarifverträge abzuschließen.- Und das bedeutet?Das Unternehmen sähe sich damit nahezu permanent einem Streikdruck ausgesetzt. Die jeweils erzielten Ergebnisse würden sich aufschaukeln und dann wiederum – zum Beispiel im konkreten Fall der Bahn – die Gewerkschaft, die die Mehrheit der Bahnbeschäftigten vertritt, anstacheln, ebenfalls entsprechende Verbesserungen im Tarifgefüge zu verlangen.- Auch die Gewerkschaften beklagen die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts. Warum?Das Urteil bewirkt auch, dass der Konkurrenzdruck der Gewerkschaften untereinander wächst, denn es könnte vermehrt zu “Gewerkschafts-Hopping” kommen. Arbeitnehmer könnten künftig versuchen, Mitglied in derjenigen Gewerkschaft zu werden, die mit dem Arbeitgeber die für sie attraktivsten Arbeitsbedingungen ausgehandelt hat.- Das kann sich laufend ändern . . .Ja, deshalb ist davon auszugehen, dass zumindest nach jedem neuen Tarifabschluss Arbeitnehmer prüfen, ob ein Wechsel zu einer anderen Gewerkschaft für sie Vorteile bietet. Von diesem Konkurrenzdruck wären auch die Unternehmen nachteilig betroffen. Denn jede Gewerkschaft würde, sobald eine konkurrierende Gewerkschaft einen günstigeren Tarifabschluss erreicht hat, versuchen, ihrerseits wieder bessere Arbeitsbedingungen zu verhandeln, um ihre Attraktivität zu steigern.- Sind alle Unternehmen in gleicher Weise betroffen?Die Situation spitzt sich bei den Verkehrsunternehmen (z. B. Deutsche Bahn, Flughafenbetreiber) zu. Sie sind von wenigen “Eliten” abhängig (z. B. Lokführer, Piloten), die bereits heute eigene Gewerkschaften gegründet haben. Diese Unternehmen können auch nicht “outsourcen”, d. h. Leistungen können nicht ins Ausland verlagert werden, um die Streikfolgen zu umgehen, wie dies Nokia Bochum konnte.- Sehen Sie Lösungsmöglichkeiten?Das Bundesarbeitsgericht hat sich bei seiner Entscheidung strikt an das Gesetz gehalten, unabhängig davon, welche Konsequenzen der Praxis drohen. Wenn die geltenden Gesetze zu Zuständen führen, wie ich sie gerade geschildert habe, und die Rechtsprechung nicht weiterhelfen kann, dann müssen logischerweise die Gesetze geändert werden, will man diese Zustände vermeiden.- Wie könnte das geschehen?Das Bundesarbeitsgericht stützt seine Entscheidung insbesondere auch darauf, dass der Grundsatz der Tarifeinheit gegen das Grundgesetz verstößt. Betroffen ist Artikel 9 Absatz 3, die sogenannte Koalitionsfreiheit. Daher muss das Grundgesetz entsprechend geändert werden, wenn man möchte, dass der Grundsatz der Tarifeinheit in der Praxis weiter gilt. Im Ergebnis sollte wie früher in einem Betrieb auch nur ein Tarifvertrag gelten, und zwar am besten derjenige, der für die meisten Arbeitnehmer eines Betriebs einschlägig ist. Es käme also darauf an, welche Gewerkschaft im betreffenden Betrieb die meisten Mitglieder hat. Das wäre eine faire und pragmatische Lösung.—-Dr. Alexius Leuchten ist Partner von Beiten Burkhardt. Die Fragen stellte Walther Becker.