Recht und Kapitalmarkt - Interview mit Rainer Süssmann

Kodex-Missachtung kein Gesetzesbruch

Landgericht München bestätigt die Unverbindlichkeit von Corporate-Governance-Regeln

Kodex-Missachtung kein Gesetzesbruch

– Herr Süßmann, das Landgericht München hat die Anfechtungsklage eines MAN-Aktionärs abgewiesen, mit der die Wahl von Ferdinand Piëch in den Aufsichtsrat der MAN AG angegriffen wurde. Die Klage stützte sich auf die Verletzung des Corporate Governance Kodex. Was ist der Hintergrund?Der Corporate Governance Kodex sieht in bestimmten Fällen von Interessenkonflikten der Aufsichtsratsmitglieder vor, dass das Amt niederzulegen ist. Ferner erwähnt der Kodex, dass bei Wahlvorschlägen eine für Aufsichtsratsmitglieder festzusetzende Altersgrenze zu berücksichtigen sei. Die Kläger des Verfahrens sahen in der Wahl einer bestimmten zudem 70 Jahre alten Person einen solchen Konflikt und hielten daher die Wahl für nicht rechtmäßig und fochten diese wegen behaupteter mehrerer Verstöße gegen den Kodex mit der Anfechtungsklage an. – Was waren die rechtlichen Erwägungen?Beschlüsse der Hauptversammlung sind anfechtbar, wenn diese gegen Gesetz oder Satzung verstoßen. Das Gericht hatte also zu entscheiden, ob der Kodex entweder Gesetzes- oder Satzungsqualität hat. Der Kodex gibt, wie die Präambel erkennen lässt, soweit es über die Wiedergabe der gesetzlichen Regelungen hinausgeht, von einem Expertengremium formulierte, freiwillige Handlungsregelungen vor. – Was sagt das Aktienrecht?Das Aktiengesetz verlangt in § 161 von börsennotierten Gesellschaften nur eine Erklärung, ob der Kodex anerkannt wird. Der Kodex ist also nicht vom Parlament als von der Verfassung berufenem Organ, sondern von einem Expertengremium erlassen worden und kann deshalb kein Gesetz sein. Verworfen wurde auch die Figur einer Gesetzeseinbeziehung kraft “dynamischer Verweisung”, wie dies etwa im Umweltrecht mit der Einbeziehung technischer Normen manchmal der Fall ist. Der Kodex ergänzt auch nicht die Satzung, da das hierzu notwendige formelle Verfahren eines mit qualifizierter Mehrheit zustimmenden Hauptversammlungsbeschlusses fehlt. Die Rechtsansicht des Gerichts entspricht im Übrigen den Ansichten des juristischen Schrifttums, so dass die Entscheidung insoweit nicht überrascht hat. – Welche Verbindlichkeit hat also der Corporate Governance Kodex? Der Kodex gibt vernünftigerweisezu beachtende Verhaltensrichtlinien vor, gleichwohl steht es jeder Gesellschaft frei, den Regelungen, soweit diese nicht sowieso gesetzlich vorgegeben sind, ganz, nur teilweise oder gar nicht zu folgen. Die Gesellschaft muss nur einmal jährlich bekannt geben, ob der Kodex beachtet und wo von ihm mit welchen Gründen abgewichen wird. Das Gericht führt in den Urteilsgründen, der vorherrschenden Auslegung folgend, ganz deutlich aus, dass die Erklärung zur Übereinstimmung mit dem Kodex mit ihrem zukunftsbezogenen Teil nur eine unverbindliche Absichtserklärung bedeutet. Damit dürfte alles gesagt sein. – Welche Risiken bestehen demnach bei einem Verstoß?Bei näherer Betrachtung keine. Diskutiert wird, ob die Organe, insbesondere der Vorstand, bei Nichtbeachtung des Kodex gegenüber der Gesellschaft, also im Innenverhältnis, schadenersatzpflichtig sein könnte, da diese quasi “ordnungsgemäßes Verhalten” formulierten. Dieser Gedanke wird jedoch mehrheitlich wegen des nur empfehlenden Charakters des Kodex verworfen. Die Entscheidung des LG München dürfte, obwohl in dem Fall nicht zu entscheiden, diese Auslegung deutlich stützen. – Und nach außen? Eine Außenhaftung wird diskutiert unter dem Gesichtspunkt, dass der Kodex ein “Schutzgesetz” sein könne. Da das LG München jedoch klar und deutlich feststellt, dass der Kodex kein Gesetz ist und sein kann, dürfte dieser Ansatz der Begründung einer Haftung obsolet geworden sein. Auch dem Versuch der Schaffung einer Vertrauenshaftung dürfte angesichts der Bestätigung der Wiedergabe der quasi Freiwilligkeit des Kodex und der reinen Absichtserklärung dessen zukünftiger Beachtung die juristische Grundlage entzogen sein. Ebenfalls scheidet eine erfolgreiche Anfechtung von Entlastungsbeschlüssen aus, wenn Regelungen des Kodex nicht beachtet werden, solange die Erklärung über Einhalten oder Abweichen veröffentlicht wird. Dem Aktionär bleibt also nur, seine Aktien zu verkaufen. – Wie kann eine höhere Wirksamkeit der Selbstverpflichtung erzielt werden, falls Unternehmen dies wünschen? Regelungen des Kodex müssten in das Aktiengesetz übernommen werden, was jedoch die Regelungsdichte noch mehr erhöhte und vor allem ein Abweichen in sinnvollen Einzelfällen sehr erschwerte. Alle denkbaren Ausnahmefälle müssten gesetzlich geregelt werden, eine unerträgliche Vorstellung. So ergibt es oftmals bei kleinen Gesellschaften mit drei Aufsichtsräten wenig Sinn, auch noch Ausschüsse mit zwei Mitgliedern zu bilden, die sowieso nichts beschließen könnten. Oder es gibt im Einzelfall wichtige Gründe, keinen Abfindungscap mit dem Vorstand zu vereinbaren oder zur Gewinnung von notwendigem Sachverstand im Aufsichtsrat etwaige Interessenkonflikte anders zu behandeln als der Kodex. All dies könnten gesetzliche Regelungen nicht schaffen, das “Comply or Explain” bleibt daher die beste Lösung. Nach dieser Erklärung kann schließlich jeder Investor sein Verhalten ausrichten. Rainer Süßmann ist Partner der Kanzlei Lovells. Die Fragen stellte Sabine Wadewitz.