RECHT UND KAPITALMARKT

Verbandsklage erweitert bisheriges Recht

Entwurf zur EU-Richtlinie ist unmittelbar auf Entschädigung gerichtet - Aus für Musterfeststellungsklage?

Verbandsklage erweitert bisheriges Recht

Von Johanna Wirth *)Mit der Einführung der Musterfeststellungsklage vor gut einem Jahr hat der Gesetzgeber erstmals jenseits spezialgesetzlich geregelter Fälle Kollektivklagen vor deutschen Gerichten ermöglicht. Denkbare Anwendungsfelder sind grundsätzlich alle Fälle, in denen eine Vielzahl potenzieller Gläubiger Ansprüche aufgrund gleich gelagerter Sachverhalte geltend macht. Derartige Sammelklagen ziehen regelmäßig die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit auf sich und können Unternehmensressourcen über viele Jahre binden. Doch damit nicht genug. Neue EU-Vorgaben sollen Verbraucherklagen künftig zu noch größerer Wirksamkeit verhelfen.Bereits im April 2008, also lange vor Einführung der Musterfeststellungsklage in Deutschland, erarbeitete die EU-Kommission einen Vorschlag zu weiteren Maßnahmen des kollektiven Rechtsschutzes. Er ist Teil eines Pakets zur Stärkung der Verbraucherrechte (“New Deal for Consumers”). Die neue “Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher” soll die geltende EU-Richtlinie zu Unterlassungsklagen ersetzen. Der Entwurf wurde zuletzt vom Europäischen Parlament kommentiert und unter der finnischen EU-Ratspräsidentschaft umfassend überarbeitet. Obwohl sich einige Mitgliedstaaten (unter anderem Deutschland) zunächst vehement gegen das Vorhaben stemmten, wurde der Richtlinienentwurf jüngst vom EU-Rat gebilligt. Im nächsten Schritt wird er zwischen Rat und Parlament verhandelt.Der Anwendungsbereich der neuen Verbandsklage erstreckt sich, insoweit mit der Musterfeststellungsklage vergleichbar, auf wesentliche Bereiche des Verbraucherschutzes. In einem entscheidenden Punkt geht die Verbandsklage aber deutlich weiter als das bislang in Deutschland geltende Recht: Mit der Musterfeststellungsklage kann – wie ihr Name nahelegt – nur Feststellung begehrt werden, dass die Voraussetzungen für das Bestehen (oder Nichtbestehen) von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmen gegeben sind. Die Verbandsklage ist demgegenüber unmittelbar auf die Leistung einer Entschädigung oder anderer Kompensationsformen wie Reparatur, Preisminderung oder Vertragskündigung gerichtet. Individuelle Klageverfahren im Anschluss an das kollektive Klageverfahren – wie sie derzeit in Deutschland noch erforderlich sind – werden dadurch entbehrlich. Risiken für UnternehmenZur Klage befugt sollen (wie bisher) nur qualifizierte Verbraucherschutzeinrichtungen sein, die über einen bestimmten Zeitraum bestanden haben, keinen Erwerbszweck verfolgen und nicht unter dem Einfluss von Unternehmen stehen, die ein wirtschaftliches Interesse an der Erhebung der Verbandsklage haben. Die Mitgliedstaaten melden diese qualifizierten Einrichtungen zu einem Verzeichnis bei der Kommission an, wobei dies – und das ist neu – auch ad hoc für eine konkrete Klage geschehen kann. Unter welchen Voraussetzungen Verbandsklagen Rechtswirkungen zugunsten einzelner Verbraucher entfalten (ob Verbraucher sich also etwa zu einem Klageregister anmelden müssen), bleibt der Regelung durch die Mitgliedstaaten vorbehalten.Die neue Möglichkeit, einen Zahlungstitel in einem einheitlichen Sammelklageverfahren zu erwirken, statt diesen individuell erstreiten zu müssen, dürfte Verbraucher motivieren, sich mehr als bisher an Kollektivklagen zu beteiligen. Es soll allerdings dabei bleiben, dass die unterliegende Partei die Kosten des Rechtsstreits trägt. Darüber hinaus sieht der Richtlinienentwurf einige Besonderheiten der Verbandsklage vor, die Risiken für Unternehmen begründen könnten. Das gilt zum einen für die Differenzierung zwischen innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Verbandsklagen. Eine grenzüberschreitende Klage ist gegeben, wenn ein Verband aus einem Mitgliedstaat in einem anderen Mitgliedstaat klagt. Erhebt der Verband Klage in dem Mitgliedstaat, von dem er benannt wurde, gilt die Klage aber auch dann als innerstaatlich, wenn sie sich gegen ein Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat richtet.Da die Regelung innerstaatlicher Verbandsklagen den Mitgliedstaaten vorbehalten bleibt, befürchten deutsche Wirtschaftsverbände ein Forum Shopping, bei dem sie Klagen in demjenigen Mitgliedstaat ausgesetzt werden, in dem die geringsten prozeduralen Anforderungen gelten. Unbeschränkt wird diese Möglichkeit allerdings nicht bestehen. In dem Entwurf des EU-Rats ist klargestellt, dass sich die Zuständigkeit der Gerichte weiterhin nach dem Internationalen Privatrecht (Brüssel-1a-Verordnung) bestimmen soll. Verbandsklagen ohne Bezugspunkt zu dem Land, in dem sie erhoben werden (etwa dem Erfüllungsort oder dem Ort der unerlaubten Handlung), wären danach nicht möglich.Der aktuelle Richtlinienentwurf sieht ferner ein Recht der Verbände vor, die Offenlegung der “für ihre Klage relevanten Beweismittel” durch das beklagte Unternehmen zu verlangen. Derart weitgehende Einsichtsrechte zugunsten der beweisbelasteten Partei sind dem deutschen Zivilprozessrecht fremd und können weitreichende Folgen haben. Immerhin sollen Umfang und Verhältnismäßigkeit einer entsprechenden Anordnung nach nationalem Verfahrensrecht geprüft werden. Der Kommissionsentwurf hatte ursprünglich noch weitergehend vorgesehen, dass die Beweismittel nicht einmal näher bezeichnet werden müssen. Bemessung der EntschädigungIm Hinblick auf die vielfach befürchtete Einführung eines pauschalen Strafschadenersatzes verweist der Richtlinienentwurf des EU-Rats, ebenso wie sein Vorgänger, darauf, dass ein solcher “vermieden” werden solle. Die Vorschläge des Europäischen Parlaments sehen sogar ein explizites Verbot vor. Für den Fall einer Entschädigung bleibt allerdings offen, nach welchen Grundsätzen diese für den individuellen Verbraucher zu ermitteln ist. Das EU-Parlament merkte insoweit zu Recht an, dass der tatsächlich entstandene und nach nationalem Recht ersatzfähige Schaden maßgeblich sein muss.Unklar bleibt zudem, wie weit die im Entwurf vorgesehene Informationspflicht reicht, nach der Unternehmen auf eigene Kosten “die von der Klage betroffenen Verbraucher” über rechtskräftige Entscheidungen benachrichtigen müssen. Da alle potenziellen Kläger regelmäßig nicht ermittelbar sein dürften, käme eine solche Pflicht allenfalls für die Verbraucher in Betracht, die sich an dem Verfahren beteiligt haben. In diesem Fall kann die Benachrichtigung aber schon über das Verfahren selbst sichergestellt werden.Die Einführung der Verbandsklage soll ausweislich des Richtlinienentwurfs nichts an bestehenden Klagemöglichkeiten ändern. Dem nationalen Gesetzgeber ist es überlassen, die Verbandsklage als neue Klageart einzuführen oder sie in bestehende Klageformen zu integrieren, solange den EU-Vorgaben Rechnung getragen wird. Dem deutschen Gesetzgeber dürfte es dementsprechend freistehen, die Musterfeststellungsklage zu modifizieren oder ganz abzuschaffen. Tut er dies nicht, wird er zu entscheiden haben, ob die Verbands- und die Musterfeststellungsklage nebeneinander möglich sein sollen. Eine solche Konkurrenz würde allerdings dem im deutschen Zivilprozessrecht grundsätzlich anerkannten Vorrang der Leistungsklage widersprechen. Wie der deutsche Gesetzgeber mit den derzeit anhängigen (insgesamt sechs) Musterfeststellungsklagen umgehen wird, bleibt ebenfalls abzuwarten.Offen ist zudem die Zukunft von Modellen, mit denen Anwälte und Verbraucher die derzeit (aus ihrer Sicht) gegebenen Schwächen der Musterfeststellungsklage zu umgehen versuchen. Das gilt insbesondere für die Abtretung und Bündelung von Ansprüchen, um diese sodann – unter Umständen durch eine eigens zu diesem Zweck gegründete Gesellschaft – unmittelbar im Wege einer Leistungsklage durchzusetzen. Für derartige Angebote könnte die Verbandsklage eine ernstzunehmende Konkurrenz werden. Schließlich winkt am Ende der Verbandsklage (ebenso wie bei den Abtretungsmodellen) ein Zahlungstitel. *) Johanna Wirth ist Partnerin von Hengeler Mueller in Berlin.