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Balance halten in bewegten Zeiten

Börsen-Zeitung, 18.8.2018 Aufsichtsratsvorsitzende haben in den vergangenen Monaten für Schlagzeilen gesorgt - das jüngste Beispiel: Beim Stahlhersteller Thyssenkrupp traten innerhalb weniger Tage sowohl der Vorstandsvorsitzende als auch der...

Balance halten in bewegten Zeiten

Aufsichtsratsvorsitzende haben in den vergangenen Monaten für Schlagzeilen gesorgt – das jüngste Beispiel: Beim Stahlhersteller Thyssenkrupp traten innerhalb weniger Tage sowohl der Vorstandsvorsitzende als auch der Aufsichtsratsvorsitzende zurück. Jeder mag die Arbeit von Aufsichtsräten unterschiedlich bewerten, Fakt ist jedoch: Aufsichtsräte stehen in einer datengetriebenen Welt mehr im Fokus denn je. Verändertes UmfeldNatürlich war früher nicht alles besser. Was ein Aufsichtsratsvorsitzender macht, hatte schon immer großen Einfluss auf Aktienkurse, Erfolge des Unternehmens, Firmenimage und letztlich die Handlungsfähigkeit der Führungsspitze. Doch was sich mit der Zeit geändert hat, ist das Umfeld, in dem sich Aufsichtsratsvorsitzende bewegen. Die von Daten getriebene, volatile Welt erfordert von ihnen, dass sie sich stärker als früher auf Veränderungen einstellen – und dennoch Kurs halten. Die kontinuierliche Berichterstattung im Netz und auf Social-Media-Plattformen macht Aufsichtsräte gläserner und öffentlich angreifbarer: Ihre Arbeit wird schneller, genauer und von größerer Öffentlichkeit kontrolliert. Wie gehen Aufsichtsratsvorsitzende mit diesen Herausforderungen um? Das hat BCG in zahlreichen Gesprächen mit erfahrenen Aufsichtsratsvorsitzenden analysiert. Was alle eint: Handlungsfelder, die sie als relevant identifiziert haben. Ein Aufsichtsrat setzt sich heutzutage anders zusammen als früher. Die berüchtigten “Old-Boys-Netzwerke” alter Tage haben ausgedient – an ihre Stelle treten Mitglieder mit unterschiedlichen Kompetenzen und Hintergründen. Die vielfältige Aufstellung eines Gremiums ist Grundvoraussetzung für die Entwicklung innovativer Ideen und konstruktiver Diskussionen. Die Mitgliederauswahl ist idealerweise ein Mix aus Kollegen aus dem direkten Unternehmensumfeld, die über interne Netzwerke und Insiderwissen verfügen, und externer Kandidaten, die unvoreingenommen auf das Unternehmen blicken und verkrustete Strukturen aufbrechen können. Ein Aufsichtsrat, der auf Vielfalt setzt, hat gute Chancen, sein Unternehmen innovativ und erfolgreich zu steuern. Komplexität steigtAngesichts der zunehmenden Themenvielfalt und -komplexität durch Globalisierung, digitale Transformation sowie neue Technologien und Geschäftsmodelle muss der Aufsichtsratsvorsitzende das Kompetenzpotenzial aller Mitglieder ausschöpfen und sie aktiv in die Sitzungen einbinden – sei es durch eine klare Aufgabenverteilung oder durch die Bildung verschiedener Ausschüsse. Gemeinsam ist ein Aufsichtsrat stärker – auch wenn es darum geht, wie Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter zusammenarbeiten. Idealerweise tun sie das als Partner auf Augenhöhe und nicht als vermeintliche Gegner. Denn das besondere Wissen der Arbeitnehmerseite ermöglicht die frühzeitige Adressierung kritischer Arbeitnehmerthemen oder möglicher Risiken und kann die Kontrollfunktion des gesamten Gremiums stärken. Nur in gleichberechtigter Form kann eine offene, aber ergebnisorientierte Diskussion im Aufsichtsrat entstehen. Der Vorsitzende muss dabei die richtige Balance zwischen Führung und Moderation finden. Über die Definition der Sitzungsagenda kann er die Themenauswahl steuern und wichtige oder kontroverse Inhalte gezielt platzieren.Ein heterogen zusammengestellter und diskussionsfreudiger Aufsichtsrat ist die Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung seiner Kernaufgabe – schwere Fehler zu erkennen und idealerweise im Vorfeld bereits zu verhindern. Das bedeutet aber nicht, Risiken konsequent zu vermeiden, sondern vielmehr, diese mit Bedacht einzugehen. Im Fußball wäre von kontrollierter Offensive die Rede. Grundsätzlich gilt, dass eine gute Zusammenarbeit zwischen Aufsichtsrat und Vorstand essenziell für funktionierende Unternehmensführung ist. Wie viel Nähe oder Distanz zum Vorstand angebracht ist, liegt dabei im Ermessensspielraum des jeweiligen Aufsichtsrates. Der Aufsichtsratsvorsitzende hat somit die Qual der Wahl und muss entscheiden, ob eher Vertrauen oder eher Kontrolle der Führungsebene an erster Stelle steht. Aktiv in der KandidatensucheBei Bestellung von Geschäftsführung oder Vorstand steht der Aufsichtsrat oft vor einem Dilemma: Die Nachfolgeplanung kann – durch stetigen Austausch mit dem Management und Führungskräften – aktiv vorangetrieben oder durch passive Kontrolle wahrgenommen werden. In letzterem Fall liegt die Planungshoheit beim Vorstand, während die Besetzungsentscheidung vom Personalausschuss getroffen wird. Der Trend geht jedoch dahin, dass der Aufsichtsrat eine aktivere Rolle bei der Suche nach geeigneten Kandidaten einnimmt, und den Kontakt mit der Führungsebene intensiviert. Fingerspitzengefühl gefragtDer voran beschriebene Rahmen zeigt: Von Aufsichtsratsvorsitzenden ist besonderes Fingerspitzengefühl gefragt, damit ein Gremium mit unterschiedlichen Mitgliedern mit einer Stimme spricht. Ein Patentrezept für eine gelungene Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender gibt es nicht. Welchen Kurs ein Aufsichtsratsvorsitzender innerhalb dieses Rahmens einschlägt, hängt von individuellen Faktoren ab: von der Branche, von der Situation, in der sich das Unternehmen befindet, und nicht zuletzt von den handelnden Charakteren. Wichtig ist, dass der Aufsichtsratsvorsitzende seine persönliche Balance findet und auf dieser Basis vorausschauend agiert. —-Carsten Kratz ist Deutschlandchef der Boston Consulting Group. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.—–Von Carsten KratzAufsichtsräte stehen in einer datengetriebenen Welt mehr im Fokus denn je.—–