Bau ächzt unter Materialmangel
Von Helmut Kipp, Frankfurt
Mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich für die bis dato florierende Bauwirtschaft die Welt verändert. Zwar sind die Auftragsbücher nach wie vor gut gefüllt, und langfristig gibt es immensen Bedarf etwa mit Blick auf die Sanierung von Straßen, Brücken und Schienennetz und die energetische Modernisierung von Wohnungen und Bürogebäuden. Doch fehlt an allen Ecken und Enden Baumaterial. Die Preise für Zulieferungen klettern immer weiter in die Höhe. Das macht Kosten- und Preiskalkulationen von Bauherren und Leistungserbringern zu einer kaum lösbaren Aufgabe.
Laut einer Umfrage des Ifo-Instituts hat die Materialknappheit auf deutschen Baustellen den höchsten Stand seit 1991 erreicht. „Mit dem russischen Angriff haben sich die Lieferprobleme bei Baustoffen drastisch verschärft“, sagt der Ifo-Experte Felix Leiss. Gestörte Lieferketten, fehlende Transportkapazitäten und steigende Energiekosten machen Materialien immer teurer, was wiederum auf die Baupreise durchschlägt.
Im Hochbau habe ein Großteil der Unternehmen die Preise kürzlich angehoben, berichtet Ifo. Für die kommenden Monate seien sehr häufig weitere Erhöhungen geplant. Auch im Tiefbau sei es vielerorts zu Anhebungen gekommen. Dennoch würden erste Projekte unrentabel. Besonders im Wohnungsbau würden vermehrt Aufträge storniert, beobachtet Leiss.
Laut einer Umfrage des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie (HDB) bezieht ein Drittel der Firmen Baumaterialien aus Russland oder der Ukraine. Baustahl beispielsweise wurde oft aus diesen Ländern importiert – und ist nun besonders knapp. Auch bei Bitumen, das vor allem im Straßenbau benötigt wird, gebe es Probleme, so das ifo Institut. Bei Ziegelsteinen und Dämmstoffen herrsche ebenfalls Mangel.
„Die Preise scheinen nur eine Richtung zu kennen – nach oben“, sagt HDB-Hauptgeschäftsführer Tim-Oliver Müller. Betonstahlmatten waren im Mai 80% teurer als vor einem Jahr, Betonstahl in Stäben 72%, Bitumen 61% und Bauholz 34%. Allein binnen eines Monats haben sich Betonstahlmatten um ein Zehntel und Bauholz um knapp 9 % verteuert. Der Preis für Betonstahl in Stäben ist im März um 19%, im April um fast 17% und im Mai um 5% geklettert – jeweils zum Vormonat. Die stark gestiegenen Energiepreise belasten ebenfalls. Denn die Herstellung vieler Baumaterialien erfordert einen hohen Energieeinsatz. Das trifft beispielsweise auf Beton, Ziegel und Dämmstoffe zu.
Hoffen auf Gleitklauseln
Lieferanten böten aufgrund der abrupten Materialverteuerung teilweise nur noch tagesaktuelle Preise an oder machten überhaupt keine Preiszusagen mehr, heißt es in der Branche. Das wirft die Kalkulation von Festpreisprojekten, die vor Monaten oder sogar Jahren festgezurrt wurden, über den Haufen.
Baufirmen sind auf das Entgegenkommen der Auftraggeber angewiesen, sonst bleiben sie auf den Mehrkosten sitzen. Laut einer HDB-Umfrage hat sich lediglich jedes dritte Bauunternehmen mit dem Besteller auf eine Preisgleitung geeinigt. Viele private Bauherren beteiligten sich an Kostensteigerungen, doch bei öffentlichen Aufträgen seien die Hürden noch zu hoch. Allerdings hat der Bund inzwischen die Regelung für die Weitergabe von Stoffpreissteigerungen erweitert und verlängert. Felix Pakleppa, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbands Deutsches Baugewerbe, erhofft sich davon eine Signalwirkung für andere öffentliche Auftraggeber.
Bisher sind die Materialverteuerungen noch nicht voll im Bausektor angekommen. Denn längerfristige Verträge mit günstigeren Konditionen schützen die Industrie noch. Laufen diese Vereinbarungen aus, droht der nächste Kostenschub. Deutsche Bank Research glaubt allerdings, dass sich der Unsicherheitsschock abschwächt. „Der kräftige Gegenwind für die Bauindustrie dürfte nachlassen, da die Rohstoffpreise fallen und die Material- und Personalengpässe abzuflauen beginnen“, schreibt Analyst Jochen Möbert.
Das Neugeschäft zeigt bereits Bremsspuren. Im April 2022 sind die Aufträge der deutschen Baubranche nämlich preis-, saison- und kalenderbereinigt um 16,4 % im Vergleich zu März abgesackt. Das war der größte Rückgang seit November 2012, also seit fast zehn Jahren. Nach vier Monaten ergibt sich damit eine Stagnation der Bestelleingänge auf dem Vorjahresniveau.
Der Einbruch im April hängt zwar auch mit dem ungewöhnlich hohen Vergleichsniveau zusammen, denn der März war ein Rekordmonat mit vielen Großaufträgen. Doch auch im Vergleich zum Vorjahresmonat verbleiben Einbußen von real fast einem Zehntel. Einen ähnlichen Rückgang zeigt der Umsatz, der im April preisbereinigt im Vergleich zum Vorjahresmonat um 9,5% schrumpfte.
Drei Viertel der Unternehmen berichten in einer HDB-Befragung von Verzögerungen bei laufenden Projekten, 35% sind von Stornierungen betroffen. Da wundert es kaum, dass sich Pessimismus breitmacht. Die Jahresziele hat die Branche bereits gekappt. Die Bauindustrie erwartet für die realen Umsätze im Bauhauptgewerbe nur noch eine Entwicklung zwischen null und minus 2% im laufenden Jahr. Der HDB stellt den Ausblick unter den Vorbehalt, dass weitere Verschärfungen bei den Energiepreisen und dem Bezug von Baumaterial ausbleiben.
Wohnungsbauziel in Gefahr
Damit rückt eines der großen Ziele der Ampel-Regierung, der Bau von 400000 neuen Wohnungen im Jahr, in weite Ferne. Zumal nicht nur die Baupreise in die Höhe schießen, sondern auch die Zinsen. Für eine Zehnjahreshypothek sind inzwischen häufig mehr als 3% zu zahlen. Für private Bauherren bedeutet das eine monatliche Mehrbelastung um mehrere hundert Euro. Da kriegt mancher Bauwillige kalte Füße.
Bauträger verschieben reihenweise neue Entwicklungsprojekte. Manche befürchten schon eine Vollbremsung des Wohnungsbaus. Bereits im vergangenen Jahr wurden nicht mehr, sondern weniger Wohnungen gebaut. Das Statistische Bundesamt zählte 293400 Fertigstellungen, 4,2% weniger als 2020. Auch im laufenden Jahr wird es weniger als 300000 Wohnungsneubauten geben, schätzt Analyst Möbert. Andererseits nimmt die Wohnungsnachfrage infolge hoher Zuwanderung aus der Ukraine und anderen Ländern weiter zu. Das könnte den Wohnungsbau bald wieder ankurbeln.