Best Practice für virtuelle HV noch nicht etabliert
swa Frankfurt
Die ersten Vorbereitungen für die nächste Hauptversammlungssaison laufen an – Siemens dürfte am 9. Februar 2023 eine der ersten sein, die die Anteilseigner einlädt. Die in der Pandemie über ein Notgesetz eingeführte Übergangsmöglichkeit, rein virtuelle Aktionärstreffen abzuhalten, läuft Ende August aus. Das neue Gesetz zur dauerhaften Einführung der virtuellen Hauptversammlung (HV) gibt den Unternehmen noch einmal die Option, ohne Satzungsbeschluss eine Online-Versammlung ohne physische Präsenz der Anteilseigner abzuhalten, doch auf den neuen regulatorischen Rahmen müssen sich alle Gesellschaften einstellen.
Ein erstes Stimmungsbild kristallisiert sich aus einer Umfrage der Kanzlei Taylor Wessing und der PR-Agentur Edelman Smithfield heraus. Befragt wurden börsennotierte Unternehmen aus der Dax-Familie und dem Prime Standard in der Zeit von Mitte Juli bis Anfang August 2022. Teilgenommen haben 82 Unternehmen, was einer Quote von 37% entspricht, wie aus der Studie hervorgeht.
In einer Gesamtbewertung der Neuregelung ist nach Einschätzung der Studienautoren zu erkennen, dass die Unternehmen das Gesetz zur virtuellen Hauptversammlung nicht als den großen Wurf betrachten, den sie sich als Idealfall gewünscht hätten. Im Gesetzgebungsverfahren hatten sich sehr unterschiedliche Meinungen zwischen Emittenten und Aktionären zur Ausgestaltung des Online-Formats gezeigt. Die Unternehmen zeigen sich der Studie zufolge bei aller Kritik jedoch dazu bereit, die neuen gesetzlichen Möglichkeiten „zu nutzen und zu erproben“.
Viele Unternehmen seien allerdings in einigen Punkten noch nicht festgelegt. So zögen 53% der befragten Gesellschaften künftig für ihre ordentliche Hauptversammlung ein virtuelles Format in Betracht. Dabei zeichne sich eine deutliche Tendenz dahin ab, die für die Ermächtigung in der Satzung festzulegende Befristung auf das gesetzliche Maximum von fünf Jahren auszudehnen.
Bei der Entscheidung für oder gegen eine virtuelle HV warte gut die Hälfte der Unternehmen noch auf die Etablierung einer Best Practice. Zudem wollten die meisten Emittenten (73%) flexibel und situativ zwischen den HV-Formaten wählen. Ob auch außerordentliche Aktionärstreffen virtuell veranstaltet werden sollen, habe der Großteil noch nicht abschließend entschieden.
Harte Blockaden zeichnen sich nicht ab. Nur für 6% der Studienteilnehmer kommt eine virtuelle HV generell nicht in Frage. Die Unsicherheit ist aber noch groß. So äußern 47% der Unternehmen allgemeine Bedenken und bringen technische Risiken, mangelnde Rechtssicherheit und den Aufwand gegenüber der Präsenz-HV vor.
Umstritten zwischen Unternehmen und Investoren ist, wie umfangreich das Frage- und Auskunftsrecht während der virtuellen HV ermöglicht wird. Gut 40% der Unternehmen wollen ihre Aktionäre veranlassen, Fragen spätestens drei Tage vor der Hauptversammlung einzureichen, nur gut 16% wollen eine Fragemöglichkeit bis in die HV hinein vorsehen. Rund 34% zeigen sich in dem Aspekt noch unentschlossen. Die Mehrheit von 55% erwartet im virtuellen Format mehr Fragen als in der Präsenzversammlung, immerhin 42% rechnen aber nicht mit einer zunehmenden Fragewelle. Knapp 40% wollen den Umfang von Fragen in der Einberufung der HV angemessen beschränken, der größere Teil der befragten Unternehmen (44,8%) hat sich diesbezüglich noch keine Meinung gebildet.
Außerhalb des Fragenkatalogs waren die Unternehmen in der Studie aufgefordert, generell Bedenken und Kritik am neuen Gesetz zu formulieren – davon haben 17 Gesellschaften Gebrauch gemacht. Als zentraler Kritikpunkt werden technische Unsicherheiten vorgebracht (32%), speziell mit Blick auf die gesetzlich verlangte Zwei-Wege-Videokommunikation mit den Aktionären. Zudem empfindet ein Fünftel der Unternehmen den Aufwand für das virtuelle Treffen im Vergleich zur physischen Durchführung der HV, insbesondere durch die Kombination von Präsenz- und Online-Elementen, vielfach als hoch und unverhältnismäßig. Einige Unternehmen betrachten Risiken aus Anfechtungsklagen und mangelnde Rechtssicherheit (17,6%) als großes Problem.
Knackpunkt Aktionärsrechte
Im Resümee der Studienautoren schätzt die Praxis vielfach die Ausgestaltung der Aktionärsrechte als wenig praktikabel ein – gerade auch das weitreichende und gegenüber der Präsenz-HV „facettenreich regulierte“ und in der Praxis gegebenenfalls schwer umzusetzende Nebeneinander von Stellungnahmen sowie dem Auskunfts-, Rede- und Nachfragerecht der Aktionäre. Teilweise machten die Unternehmen auch „aktionärsschützende Aspekte“ geltend, etwa die mögliche technische Überforderung älterer Aktionäre.
Aus Sicht der Studienautoren legt das in den Unternehmen eingefangene Meinungsspektrum weiter gehenden Reformbedarf im Aktienrecht offen, insbesondere beim Beschlussmängelrecht.