IM BLICKFELD

Britischer Einzelhandel vor langer Durststrecke

Von Andreas Hippin, London Börsen-Zeitung, 10.6.2020 Am 15. Juni werden viele britische Einzelhändler wieder ihre Türen öffnen. Doch das Coronavirus hat für eine Beschleunigung ohnehin schon bestehender Trends gesorgt, die der Branche schwer zu...

Britischer Einzelhandel vor langer Durststrecke

Von Andreas Hippin, LondonAm 15. Juni werden viele britische Einzelhändler wieder ihre Türen öffnen. Doch das Coronavirus hat für eine Beschleunigung ohnehin schon bestehender Trends gesorgt, die der Branche schwer zu schaffen machen. Die Ruhe nach dem Sturm könnte ihr am Ende mehr Probleme bereiten als der Lockdown. Der vorgegebene Mindestabstand von zwei Metern, der zur Eindämmung der Pandemie eingehalten werden muss, macht das zuvor so beliebte Shopping zur Tortur. Die Modekette Next will deshalb zunächst große Filialen jenseits der Stadtzentren eröffnen, wo soziale Distanzierung leichter möglich ist. Die Verbraucher müssen sich auf lange Schlangen vor den Geschäften einstellen, die nur eine bestimmte Zahl von Kunden hereinlassen dürfen. In zahlreichen Konsumtempeln bleiben Umkleidekabinen, Toiletten und Cafés erst einmal geschlossen. Maniküre, Schminktipps und Stilberatung dürften ausfallen. Einwegsysteme wie bei Ikea werden die neue Norm. Das schwedische Möbelhaus hat bereits 19 Filialen in England und Nordirland wieder eröffnet.Vielerorts wird künftig das Motto gelten: Finger weg von meinen Waren. Sollte doch einmal ein Kleid anprobiert werden, muss es in Quarantäne. Der Buchhändler Waterstones bittet seine Kunden, die von ihnen angesehenen Bücher in ein bestimmtes Regal zu stellen, um sie dann 72 Stunden lang wegschließen zu können.Der Kunde wird vom König zum Infektionsrisiko. Vor diesem Hintergrund ist kaum damit zu rechnen, dass die Menschen den Einzelhändlern in der kommenden Woche die Türen einrennen werden. Dabei musste die Branche bereits herbe Rückschläge verkraften. Wie das British Retail Consortium mitteilt, ist der Einzelhandelsumsatz im Mai im Vergleich zum Vorjahresmonat um 5,9 % geschrumpft. Das mag im Vergleich zum April, in dem der Erlös um fast ein Fünftel einbrach, noch ganz gut aussehen. Allerdings war der Mai 2019 ein schwacher Monat für den Einzelhandel. Zudem ist in den Daten das während der Krise boomende Online-Geschäft enthalten. Rechnet man es wieder heraus, zeigt sich das Ausmaß der Misere: In den drei Monaten per Ende Mai halbierte sich der Umsatz des stationären Einzelhandels mit Non-Food-Artikeln. Die Online-Penetrationsrate stieg dagegen von 31,4 % im Mai 2019 auf 61,9 %. Schlechte Zeiten für VermieterDer Trend zum Kauf im Internet ist nicht neu. Immobilienanleger befassen sich schon länger damit. Mitte Mai lagen die Bewertungen von Einzelhandelsobjekten im Schnitt um gut 9 % unter dem Niveau vom Jahresanfang. “Einfach gesagt, gibt es keinen Markt für Einkaufszentren”, konstatierte der Jefferies-Immobilienexperte Mike Prew bereits im Januar. Im vergangenen Jahr sei die von Intu Properties getätigte Veräußerung von 50 % an Intu Derby an Cale Street Investments die einzig nennenswerte Transaktion gewesen. Der Deal habe zwar den Buchwert erhalten, er sei jedoch so strukturiert gewesen, dass das gesamte Risiko dem Verkäufer aufgeladen worden sei. Wer Einzelhandelsobjekte besitzt, hat Mühe, die Miete einzutreiben. British Land sammelte bei ihren Mietern aus der Branche im März gerade einmal 43 % der fälligen Miete ein. Bei Land Securities kamen 38 % herein, bei Intu 29 %. Immer mehr Firmen versuchen, ihre Mieten nachzuverhandeln, oder verabschieden sich gleich in die Zahlungsunfähigkeit. Die British Property Federation geht davon aus, dass Mieter aus dem Einzelhandel und dem Hotel- und Gaststättengewerbe bestenfalls 15 % der am 24. Juni fälligen Dreimonatsmieten zahlen werden.Im Vergleich zum Vermieterverband versprüht der Marktforscher Springboard geradezu Optimismus. Immerhin habe sich die Zahl der Besucher von Einkaufszentren und -straßen im Mai etwas erholt. Hatte sie im April noch um 80,5 % unter Vorjahresniveau gelegen, waren es im vergangenen Monat nur 78,2 % weniger potenzielle Kunden. Trotz des Wachstums des Internethandels in den vergangenen zwei Monaten gebe es ein hohes Maß an aufgestauter Nachfrage nach traditionellem Shopping, glaubt Diane Wehrle, Marketing & Insights Director bei Springboard. Der erste Hinweis darauf seien die enormen Schlangen gewesen, die sich bei der Eröffnung von Baumärkten gebildet hätten.Die Unternehmen der Branche wollen darauf lieber keine Wetten abschließen. Zuletzt kündigte das Modeunternehmen Mulberry, dessen britische Filialen seit Ende März geschlossen bleiben mussten, Pläne für die Reduzierung der Belegschaft um ein Viertel an. Die Online-Nachfrage sei zwar “gut” gewesen, habe den Umsatzrückgang aber nicht ausgleichen können. Immerhin sind Übernahme und Fusionen in der Branche nicht völlig zum Erliegen gekommen. SCP Private Equity holte sich im vergangenen Monat den 1898 gegründeten Londoner Herrenausstatter TM Lewin von Bain Capital. Das Unternehmen unterhält 66 Niederlassungen und gehört zu den bekanntesten Namen auf der Jermyn Street. Ein Kaufpreis wurde nicht genannt. Bain hatte TM Lewin vor fünf Jahren erworben. Und der Online-Modehändler Boohoo.com sicherte sich für bis zu 323,8 Mill. Pfund die restlichen 34 % an Prettylittlething.com (vgl. BZ vom 29. Mai).