INDUSTRIE IM AUSNAHMEZUSTAND

Coronakrise dürfte Klagewelle auslösen

Unternehmen kommen mit Force-majeure-Klauseln aus ihrer Lieferverpflichtung, bleiben aber in Beweisnot über ihr Handeln - "Frühzeitig Verträge durchforsten"

Coronakrise dürfte Klagewelle auslösen

Mit fortschreitender Ausbreitung des Coronavirus und Stillständen in den Fabriken wächst die Gefahr, dass Unternehmen nicht mehr lieferfähig sind. Firmen können sich mit entsprechenden Vertragsklauseln auf höhere Gewalt berufen, doch sie müssen im Einzelfall nachweisen, dass sie dennoch alles versucht haben, um das Geschäft am Laufen zu halten. Lieferanten und Kunden werden sich zunehmend vor Gericht auseinandersetzen. Von Sabine Wadewitz, FrankfurtIn Unternehmen macht sich die Sorge über die Unterbrechung der Lieferketten durch die Ausbreitung des Coronavirus breit. China ist für viele Branchen nicht nur ein wichtiger Abnehmer von Produkten, sondern ein zentraler Lieferant von Waren oder Maschinen. Die Industrie arbeitet intensiv daran, die Versorgung aufrechtzuerhalten und Engpässe abzuwenden. Mit Hochdruck werden neue Lieferanten gesucht, die einspringen können, wenn andere ausfallen. Neben allen Bemühungen zur Aufrechterhaltung der Wertschöpfungsketten klären Unternehmen rechtlich ab, wer im Fall des Falles für Ausfälle zu haften hat. Es zeichnet sich eine Flut an Klagen ab, weil Lieferanten und Abnehmer gegenseitig bestrebt sind, ihre Interessen durchzusetzen.In den Anwaltskanzleien häufen sich Anfragen von Mandanten, die sich auf eventuelle Streitigkeiten vorbereiten wollen. Es gibt eine große Zahl an Betroffenen. “In der Regel steckt jedes produzierende Unternehmen irgendwo in der Mitte einer Lieferkette”, sagt Kirstin Schwedt, Partnerin der Kanzlei Linklaters und spezialisiert auf internationale Schiedsgerichtsverfahren, Prozessführung und alternative Streitbeilegung. Jedes Glied in der Kette kann von den Folgen der Corona-Epidemie betroffen sein. Es können eigene Arbeitnehmer erkrankt sein, Behörden haben das Unternehmen womöglich unter Quarantäne gestellt oder es sind Lieferwege unterbrochen oder verlängert, weil Häfen geschlossen oder langwierige Kontrollen an Flugplätzen eingeführt wurden. Vom Einzelfall abhängigIn diesem Umfeld appelliert die Juristin an die Unternehmen, sich alle Verträge mit Lieferanten und eigenen Kunden im Detail anzusehen. In der Regel enthalten internationale Lieferverträge Force-majeure-Klauseln, die für die Dauer eines Einflusses aus höherer Gewalt von der Lieferpflicht entbinden. Schwedt weist darauf hin, dass die Beurteilung von höherer Gewalt jedoch vom Einzelfall abhängig ist.Mit Blick auf die Corona-Epidemie könne man wohl “abstrakt unterstellen”, dass die Voraussetzungen für Force majeure gegeben seien. “Denn es handelt sich um eine globale Gesundheitskrise, die Weltgesundheitsorganisation WHO hat den internationalen Notstand ausgerufen.” Allerdings muss jeder Lieferant für den konkreten Einzelfall belegen, dass er durch die Epidemie in seinem Geschäft ausgeschaltet wurde. “Das Unternehmen muss beweisen, dass es zum Beispiel keine Möglichkeit hatte, Teile von anderer Stelle zu beziehen, um seine Produktion aufrechtzuerhalten”, sagt die Anwältin.Vorstellbar sind viele Konstellationen. Sollte eine Werksschließung nicht behördlich verhängt, sondern als Vorsichtsmaßnahme vom Unternehmen selbst veranlasst worden sein, ist zu beweisen, dass dies notwendig war. Auch Lagerhaltung kann vertraglich fixiert sein. “Man muss alles Zumutbare unternehmen, um trotz eines externen Einflusses die Leistungspflicht zu erfüllen”, erklärt Schwedt. “Dabei muss das betroffene Unternehmen unter Umständen auch in Kauf nehmen, einen deutlich höheren Preis für ein notwendiges Vorprodukt oder eine Dienstleistung zu zahlen.”Die alternativen Beschaffungsversuche sind genauestens zu dokumentieren und die Beweisführung ist kein leichtes Unterfangen. Die Anwältin rechnet mit einer Prozesswelle im Zusammenhang mit den Folgen von Corona. Denn es werde unterschiedliche Auffassungen zwischen Kunde und Lieferant darüber geben, was im Einzelfall noch zumutbar war, um den Vertrag zu erfüllen.Sie rät den Mandanten, sich frühzeitig eine Strategie für die Steuerung der für sie relevanten Teile der Lieferkette zurechtzulegen. “Dabei muss man gegebenenfalls proaktiv vorgehen, um sich selbst zu retten”, meint Schwedt. So könne es in Einzelfällen angeraten sein, durch einstweilige Verfügung zu erreichen, dass Lieferungen oder Dienstleistungen fair verteilt werden. Genauso müsse ein Unternehmen prüfen, in welcher Reihenfolge es seine Kunden bedient, wenn die produzierte Menge nicht mehr für alle reicht. “Dann muss man abwägen und die Konsequenzen unter den jeweiligen Verträgen ausloten”, rät die Expertin. Versicherer außen vorNicht nur als Lieferant, auch als Abnehmer ist man gefordert. Wer seine Fabrik geschlossen hat, muss bestellte Produkte dennoch annehmen und bezahlen, selbst wenn er sie aktuell nicht verwenden kann. Wer sich hier verweigert, kommt nach deutschem Recht in Annahmeverzug, erklärt die Juristin. Die Abnehmer haben dann auch dafür geradezustehen, wenn die Teile irgendwo zwischengelagert werden müssen. “Die Abnehmer haften für den Mehraufwand”, fasst es Schwedt zusammen.Die Hoffnung, dass eine Versicherung die Schäden aus unterbrochenen Lieferketten trägt, dürfte im Corona-Fall ins Leere laufen. In Standardversicherungen sind Schäden aus Epidemien nicht abgedeckt. In der Regel sind Firmen nur für eigene Sachschäden versichert, nicht für Folgeschäden in der Lieferkette. “Betriebsunterbrechung ist im Grundsatz weltweit nicht gedeckt, wenn nicht ein versicherter Sachschaden vorausgeht”, erklärt denn auch Munich-Re-Vorstand Torsten Jeworrek. Allianz-Finanzchef Giulio Terzariol unterstreicht in gleicher Tonlage, die Versicherung greife nicht, wenn die Ursache kein echter Sachschaden ist.Aus China ist im Zusammenhang mit der Corona-Epidemie zu erfahren, dass die lokalen Behörden reihenweise Force-majeure-Zertifikate an Firmen im Reich der Mitte verteilen. Sich diese “Beweise” zu sichern, kann auch ausländischen Unternehmen angeraten sein, weil sie in Prozessen vor lokalen Gerichten davon profitieren könnten, empfehlen Juristen der Kanzlei Debevoise & Plimpton ihren Mandanten. Allerdings werde die Justiz außerhalb Chinas die Kriterien für die Anerkennung von Force majeure wie bisher nach den üblichen international gültigen Standards ansetzen.Um sich gute Ausgangsbedingungen für rechtliche Schritte zu verschaffen, muss man bei Abschluss von Lieferverträgen entsprechend Sorge tragen. Schwedt empfiehlt, Verträge mit chinesischen Partnern so zu gestalten, dass man nicht in chinesisches Recht gezwungen wird. “In Vereinbarungen mit asiatischen Partnern wird oft das materielle Recht von Hongkong oder Singapur gewählt”, erklärt sie. Damit bewege man sich im Rechtskreis des Common Law, dem auch das britische Recht angehört. Oder man entscheide sich für eine kontinentaleuropäische Rechtsordnung oder das internationale UN-Kaufrecht. Für eine Rechtswahl müsse der Vertrag aber ein internationales Element aufweisen.”Wir raten in solchen Verträgen fast immer zu Schiedsklauseln, um ein Verfahren vor staatlichen Gerichten zu vermeiden. Dann ist man deutlich flexibler, wo und nach welchen Regeln das Verfahren stattfinden soll”, so Schwedt. Mit dem Schiedsverfahren müssen sich beide Parteien einverstanden erklärt haben. Das sei in internationalen Verträgen mit chinesischen Unternehmen üblich.Eine Schiedsklausel sei auch vor dem Hintergrund entscheidend, dass deutsche Gerichtsurteile gegen eine chinesische Partei in China praktisch nicht vollstreckt werden. Hat man dagegen einen Schiedsspruch erwirkt, wird er nach der von mehr als 160 Ländern ratifizierten “New York Convention” vollstreckt. “Das ist erprobt”, betont die Anwältin. In der ZwickmühleSo einfach stellt es sich in der Praxis aber nicht immer dar. Denn oft gibt es uneinheitliche Vereinbarungen mit unterschiedlichen Parteien in einer langen Lieferkette. “Mit manchen haben sie eine Schiedsklausel, mit manchen eine Gerichtsstandsklausel, zudem sind oft unterschiedliche Rechtsordnungen anwendbar.” Damit ist die Chance auf eine einheitliche Entscheidung in rechtlichen Streitigkeiten kaum gegeben, warnt die Juristin.Um sich über den Rechtsrahmen ein Bild zu machen, sollten Unternehmen frühzeitig ihre Verträge durchforsten, mahnt Schwedt. Sonst drohen sie in die Zwickmühle zu geraten: “Wenn sich mein Zulieferer auf Force majeure beruft und ich dieses Argument weiterreiche, kann es sein, dass es mein Abnehmer ablehnt, weil es in einer anderen Rechtsordnung geprüft worden ist.” Schlimmstenfalls hängt das betroffene Unternehmen in der Patsche und muss beide Seiten bezahlen: Dem Lieferanten das zu spät erhaltene Vorprodukt und dem eigenen Kunden Schadenersatz, weil es ihn nicht rechtzeitig beliefern konnte.