Leserbrief

„Da werden alle Grenzen gerissen“

Das Urteil gegen Shell ist eine Katastrophe für den Industriestandort Niederlande. Davon ist unser Leser Professor Uwe H. Schneider überzeugt.

„Da werden alle Grenzen gerissen“

Unter dem Titel „Die Anmaßung der Klima-Richter“ hat sich Claus Döring in seiner Kolumne „Unterm Strich“ am 29.5.2021 mit dem Urteil des Bezirksgerichts in Den Haag beschäftigt, das den Ölkonzern Shell dazu verdonnert hat, die CO2-Emissionen bis 2030 um 45% gegenüber 2019 zu reduzieren. Der Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens an der Universität Mainz, Prof. Uwe H. Schneider, nimmt dazu in einem Leserbrief Stellung.  

Lieber Herr Döring, mit Ihrem Kommentar „Unterm Strich“ greifen Sie ein Thema auf, das dringend, ganz dringend der offenen Diskussion bedarf. Es ist ein Wunder – aber nicht überraschend, dass das Urteil des Bezirksgerichts in Den Haag zur Haftung von Shell diese Zustimmung findet. Nein, überraschend ist das nicht; denn die mediale Diskussion wird von einer Gruppe von Teilnehmern be­herrscht, die die Grundlagen unserer Rechtsordnung nicht kennen oder nicht zur Kenntnis nehmen wollen oder – schlimmer noch – instrumentalisieren. Leider halten sich die deutschen Juristen – noch – zurück und stürmen nicht sofort in die Öffentlichkeit, wie dies etwa die öffentlichkeitswirksamen Volkswirte tun.

Ob die Verurteilung des Shell-Konzerns dem niederländischen Recht entspricht, ob es sich um ein Urteil von judiziellen Umweltaktivisten in der richterlichen Robe handelt, um ein judizielles Missbrauchsurteil oder ob das Urteil dem überkommenen niederländischen Recht entspricht, vermag ich nicht einzuschätzen. Für den Industriestandort Niederlande ist das Urteil jedenfalls eine schlichte Katastrophe. Denn für die Unternehmen kann dies nur heißen: Nichts wie weg, den Sitz verlegen und möglichst auch den Wohnort der Organmitglieder. Wer in einer solchen Rechtsordnung verbleibt, handelt pflichtwidrig.

Zu befürchten ist nur, dass auch in anderen Ländern mit einer anderen Rechtsordnung durch die Gerichte nach dem Grundsatz entschieden wird: Jeder haftet für alles, in unbegrenzter Höhe, verschuldensunabhängig, konzernweit und ohne Verjährung der Ansprüche. Den Aktivisten geht es nun darum, den Umweltschutz nicht nur politisch, sondern ihn auch vor Gericht durchzusetzen. Ein Beitrag in derselben Ausgabe der Börsen-Zeitung mit dem Titel „Rechtliche Entwicklungen im Hinblick auf Nachhaltigkeit“ zeigt, dass auch unter der deutschen Rechtsordnung in Anwendung von §826 BGB alles möglich ist: Klimaschädliches Verhalten ist sittenwidrig, klimaschädliches Verhalten wird durch die Unternehmen hingenommen. Da sind entsprechende Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche gegen die Unternehmen und die Organmitglieder naheliegend. Da werden alle Grenzen gerissen. Oje. Erst wenn nicht nur Corporate Social Responsability, sondern auch Consumer Responsability eingeführt wird, also auch die Verbraucher mit „Sorgfaltspflichten“ belastet werden und unbegrenzt haften, wird allen bewusst, wohin die Reise geht. Oje.

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