Dem Niedrigzins auf der Spur
Wozu braucht die Welt Volkswirte? Spötter meinen: Damit sich die jeweils Regierenden auf eine wissenschaftlich anmutende Begründung ihrer häufigen Bauch- oder noch häufigeren ideologisch bestimmten Kopfentscheidungen berufen können. Und nicht wenige Top-Ökonomen erinnern – nicht zwangsläufig vom Äußeren, aber in ihrem Rollenverständnis – an die Hofnarren, die im Mittelalter als geistreiche Spaßmacher ihren Herren als Ratgeber und zuweilen Vertraute dienten. Erklärungen für allesJedenfalls halten sich Regierungen und Institutionen auch heute noch solche Ratgeber, man denke nur an die wissenschaftlichen Beiräte der Ministerien, an den “fünf Weise” genannten Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, an die staatlich finanzierten Forschungsinstitute oder an die Chefvolkswirte in politisch einflussreichen Institutionen – von der Bundesbank über die EZB bis zu OECD und IWF. Und trotz oder gerade wegen dieser vielen klugen Köpfe gibt es unzählige widersprüchliche “wissenschaftliche” Erklärungen dafür, warum die Welt so ist, wie sie ist. Und warum beispielsweise die Zinsen derzeit negativ sind, wie lange das noch so sein wird und welche Konsequenzen daraus folgen.Letzteres war Thema eines Stelldicheins prominenter Ökonomen, zu dem Otmar Issing als Präsident des Center for Financial Studies nach Frankfurt geladen hatte. Neben den Protagonisten und intellektuellen Widerrednern Carl Christian von Weizsäcker und Hans-Werner Sinn, deren Ausführungen – bei allem intellektuellem Reiz des Herumrutschens auf Grenzproduktivitäts- und Zinskurven des Kapitals – doch sehr an ein volkswirtschaftliches Hauptseminar vergangener Zeiten erinnerten und erst in den politökonomischen Schlussfolgerungen und Ratschlägen die Kurve zur Relevanz kriegten, durften dann mit Michael Burda, Stefan Homburg, Michael Hüther und Thomas Meyer einige noch aktiv im Lehr- und Politikberatungsgeschäft engagierte Volkswirte die allgemeine Zinsverwirrung auf die Spitze treiben. Schon der Begriff des Zinses, um den es ja gehen sollte, fand so viele Interpretationen wie Panelteilnehmer, musste Moderator Jan P. Krahnen feststellen und feierte dies sogleich als Erkenntnisgewinn der Diskussion. Ja, man ist bescheiden geworden, wenn es um die Erklärung der wirtschaftlichen Zusammenhänge geht. What goes down . . .Die nächste Erkenntnis: Die Antwort auf die Frage, wie lange es noch negative Zinsen gibt, ist abhängig von der behaupteten Ursache der Negativzinsen. Da kann man es beispielsweise mit Michael Burda halten, der an die 1980er Jahre erinnert, als man sich nach dem “Volcker-Schock” den Kopf über die Ursachen der hohen Zinsen zerbrach und zum Schluss kam: “What goes down, must come up”. Irgendwann jedenfalls. Oder man blickt, wie Stefan Homburg, nicht nur auf die risikolosen Zinsen von Staatsanleihen, sondern auch auf die Eigenkapitalkosten und damit auf die durchschnittlichen gewichteten Kapitalkosten in einer Volkswirtschaft (WACC). Dann stellt man nämlich fest, dass diese für die volkswirtschaftlichen Investitionen maßgebliche Größe in den zurückliegenden 20 Jahren recht stabil bei 7 % lag und der Begriff von der Niedrig- oder Negativzinswelt doch ein recht verengtes Weltbild offenbart. Oder man hält ohnehin wenig von der ökonomischen Mechanik und neigt zu eingängigen politökonomischen Erklärungen, wie Hans-Werner Sinn. Für ihn ist ja schon der Euro von vornherein eine Vergemeinschaftungsaktion gewesen, die allen Teilnehmern durch die damit gewährte Bonität die Zinsen senkte. Und da alle die Druckerpresse im Keller hatten, sei es zur Blase gekommen, die dann platzte und von Amerika nach Europa schwappte. Und da Europa, wie zuvor Japan, keine Banken pleitegehen lassen wollte, entstand eine Rettungsarchitektur mit einer Staatspapiere aufkaufenden Notenbank im Zentrum. Kommt die duale Währung?Nach Hans-Werner Sinn ist das Geld, das die Bürger in ihren Taschen haben, faktisch Eurobonds, gedeckt durch die von der EZB gekauften Staatspapiere. Die Frage nach dem “wie lange” der Negativzinsen beantwortet Sinn mit “ewig” und erwartet sogar noch stärker negative Zinsen. Denn die EZB müsse zusehen, wie sie das viele Geld wieder aus der Welt schaffe. Deshalb prognostiziert Sinn eine Zeit der dualen Währung. Die EZB werde digitales Bargeld einführen – woran ja schon gearbeitet werde – und dann dieses digitale Geld zum einzigen gesetzlichen Zahlungsmittel erklären. Dann werde das physische Bargeld jedes Jahr um den Satz des Negativzinses gegenüber dem digitalen Bargeld abgewertet. Am Ende sei der Geldüberhang beseitigt und alle europäischen Staatspapiere seien sozialisiert, so die Verschwörungstheorie des einstigen Ifo-Chefs, dessen Horrorszenario hoffentlich nicht zum Regiebuch der EZB-Geldpolitik wird. Volkswirte hinter der KurveGottlob muss man nicht alles, was Volkswirte in Vorlesungen, Studien oder wissenschaftlichen Symposien so von sich geben, für bare Münze nehmen. Gerade Makroökonomen vergessen gerne beim Entwickeln von ökonomischen Gesetzen, dass es sich nicht um eine Naturwissenschaft, sondern um eine Sozialwissenschaft handelt, mit unvollkommenen und intransparenten Märkten und nur bedingt berechenbaren Marktteilnehmern, weil Menschen.Alvin Hansen, akademischer Lehrer der späteren Nobelpreisträger Paul Samuelson und James Tobin und selbst amerikanischer Keynes genannt, weil er dessen Gedanken in den USA in den 1930er Jahren zum Durchbruch verhalf, persönlich aber als Apologet der säkularen Stagnation völlig danebenlag, räumte einst ein: “Wir Volkswirte sind immer hinter der Kurve.” So viel Demut würde man auch jenen Ökonomen wünschen, die uns heute erklären wollen, warum negative Zinsen das Gebot der Stunde sind. – c.doering@boersen-zeitung.de——-Von Claus DöringDie ökonomische Wissenschaft hat keine einzige, sondern viele Erklärungen für Niedrigzinsen und deren Folgen. Für jeden Politiker ist etwas dabei. ——