GASTBEITRAG

Der deutsche Aufsichtsrat braucht neue Modelle

Börsen-Zeitung, 7.10.2015 Im Management ist der Druck in den vergangenen Jahren enorm gewachsen. Immer anspruchsvoller die gesetzten Ziele, immer kürzer die Verweildauer von Vorständen. Schon längst setzt man darum auf interdisziplinäre und...

Der deutsche Aufsichtsrat braucht neue Modelle

Im Management ist der Druck in den vergangenen Jahren enorm gewachsen. Immer anspruchsvoller die gesetzten Ziele, immer kürzer die Verweildauer von Vorständen. Schon längst setzt man darum auf interdisziplinäre und -kulturelle Teams, ohne die die Fragestellungen der Zukunft nicht zu lösen sind.Anders sieht es in deutschen Aufsichtsräten aus: Mehrmalige Amtsperioden sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Uniformität statt Interdisziplinarität. Ein Verharren in bekannten Kreisen anstatt das Zuführen anders denkender Mitglieder. Und das, obwohl Aufsichtsräte mit ganz spezifischen großen Trends konfrontiert sind:1. Wandel in Wirtschaft und GesellschaftNie gab es eine Zeit, in der sich die allgemeinwirtschaftlichen Rahmenbedingungen derart schnell verändert haben. Tradierte Geschäftsmodelle werden sich anpassen müssen oder untergehen. Digitalisierung und Vernetzung, disruptive Geschäftsmodelle, globale politische Instabilität, Ressourcenknappheit, ein bisher ungekanntes Kundenverhalten sind nur einige der großen Einflussfaktoren. Nie war es wichtiger, schnell, entschieden und vor allem richtig auf Veränderungen zu reagieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben.Im Klartext heißt das: Aufsichtsräte müssen wesentlich näher am Heute sein als bisher. Dennoch finden sich in deutschen Aufsichtsgremien überwiegend Persönlichkeiten, die ihre operativen Tätigkeiten längst sechs bis acht Jahre hinter sich gelassen haben.2. Zunehmende RegulierungDie Wirtschafts- und Finanzkrise hat dazu geführt, dass die meisten europäischen Mitgliedstaaten den regulatorischen Rahmen der Unternehmensaufsicht deutlich verschärft haben. Diese führte unter anderem auch zu einer erstmaligen Betrachtung der Funktions- und Leistungsfähigkeit der Kontrollgremien und der Fragestellung, ob diese nicht – gerade in der Finanzindustrie – zu lange und wissentlich weggeschaut haben. Aus den neuen rechtlichen Vorschriften ergeben sich eine Vielzahl neuer Haftungsrisiken, nicht nur für das operative Management der Unternehmen. Kontrolleure stehen darum unter einer verschärften Beobachtung des Gesetzgebers.3. Aktive Rolle von InvestorenNach angelsächsischem Vorbild erstreiten immer mehr Investoren einen eigenen Sitz in Aufsichtsräten. Und sind bestrebt, ihre Kontrolleursrolle so proaktiv wie möglich auszufüllen. Sie nehmen damit nicht nur Einfluss auf die Dynamik des Aufsichtsrates, sondern stellen auch den Vorstand vor neue Herausforderungen. Das Ziel: Ihren Einfluss auf die Firmenpolitik so weit wie möglich geltend machen, um den eigenen Partikularzielen zu dienen. Gerade Aufsichtsratsvorsitzende benötigen hier echte Führungsqualitäten, um dennoch eine konstruktive Arbeitsatmosphäre schaffen zu können.4. Verdichtung inhaltlicher KomplexitätDie inhaltliche Komplexität der vom Aufsichtsrat verantworteten Themen steigt weiter an. Zu traditionell abgedeckten Themenfeldern wie Risikomanagement und Compliance kommen nun Fragestellungen wie zum Beispiel Unternehmensstrategie, Nachhaltigkeit, langfristige Personalstrategie, Informationstechnologie und -sicherheit und Vorstandsvergütung. Dies fordert von den Aufsichtsräten eine stärkere fachliche Vertiefung ihrer Arbeit und nicht zuletzt ein stärkeres zeitliches Engagement.Diese Trends verdeutlichen: Das bisherige Modell des deutschen Aufsichtsrats wird Unternehmen nicht in eine sichere Zukunft geleiten können, da sich Anforderungs- und Kompetenzprofile auseinanderentwickelt haben.Um den neuen Herausforderungen zu begegnen, wird eine neue Vielfalt an Sicht- und Denkweisen in den Gremien benötigt. Vorderste Dringlichkeit ist es darum zu definieren, welche Anforderungen heute wirklich an den Aufsichtsrat gestellt werden – und wie diese Kompetenzen sich in der aktuellen Besetzung widerspiegeln. Um auf dieser Basis zu definieren, wie eine neue Zusammensetzung des Gremiums aussehen sollte. Um Letzteres zu ermöglichen, bedarf es dazu der Etablierung eines offenen und transparenten Nominierungsprozesses für Aufsichtsratsmitglieder. Etwas, das heute häufig eher informell und im Verborgenen abläuft. Der Aufsichtsratsvorsitzende muss Prozesse und Abläufe verankern, die bei Vorstandsbesetzungen bereits Normalität sind.Dazu gehört auch die Einführung eines strukturellen Nachfolgemanagements. Nominierung nach dem Motto “Wenn der eine geht, kommt schon der Nächste” sollte es künftig nicht mehr geben. Vielmehr gilt es, vorausschauend darauf zu achten, wie neue Aufsichtsräte vorhandene Lücken im Kompetenzspektrum schließen und damit unmittelbare produktive Aufgaben im Gremium übernehmen können.Aufsichtsräte erhalten so eine ganze neue Dynamik. Und diese ändert die Führung des Spitzengremiums. Vor allem der Aufsichtsratsvorsitzende muss sich in einem solchen Aufsichtsrat der Vielfalt eher als lenkender Moderator begreifen, als zu dominant die Richtung vorzugeben. Er muss nicht nur Besetzungen erfolgreich meistern, sondern den Neulingen den Weg in eine produktive Tätigkeit ebnen, die sie aufgrund bisheriger Machtverteilung und politischer Differenzen sonst vielleicht nicht ausüben können. Damit einher geht auch, alte Verhaltensweisen und bereits verteilte Pfründe in Frage zu stellen. Und so ändert sich auch das Anforderungsprofil an den Vorsitzenden immens. Vorbild AuslandAndere Länder haben viel klarer den Handlungsbedarf erkannt. In den Wirtschaftsräumen außerhalb von Zentraleuropa und den Märkten mit angelsächsischer Prägung ist es selbstverständlich, dass im Aufsichtsrat Mitglieder sitzen, deren Kompetenz und Erfahrung direkt und unmittelbar mit den aktuellen Herausforderungen des Unternehmens korreliert. In regelmäßigen Abständen wird nicht nur die Performance des Top-Managements, sondern auch des Aufsichtsgremiums überprüft. Fällt diese zu schwach aus oder fehlt die notwendige Kompetenz, um die Rolle noch zeitgemäß ausführen zu können, werden Stellen neu- und nachbesetzt. Für deutsche Unternehmen ist es entscheidend, jetzt zu handeln, um nicht ihre Wettbewerbsfähigkeit mittel- bis schon kurzfristig einzubüßen. Denn – ob Michail Gorbatschow dies nun so gesagt haben mag oder nicht – es gilt nach wie vor: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. In diesem Fall werden es Kunden, Investoren und Mitarbeiter sein.—-Hubertus Graf Douglas, Senior Partner und Geschäftsführer von Korn Ferry in Deutschland —-Hagen Graf von Schweinitz, Senior Partner von Korn Ferry