IM BLICKFELD

Der Novartis-Schock bewegt den Schweizer Außenhandel

Von Daniel Zulauf, Zürich Börsen-Zeitung, 27.9.2018 Der Basler Pharmakonzern Novartis hat am Dienstag mit der Ankündigung eines großen Stellenabbauprogrammes die ganze Schweiz aufgeschreckt. Nicht zufällig hatte das Unternehmen vorrangig selbst den...

Der Novartis-Schock bewegt den Schweizer Außenhandel

Von Daniel Zulauf, ZürichDer Basler Pharmakonzern Novartis hat am Dienstag mit der Ankündigung eines großen Stellenabbauprogrammes die ganze Schweiz aufgeschreckt. Nicht zufällig hatte das Unternehmen vorrangig selbst den Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann über die Pläne unterrichtet. Der Verlust von 2 150 Stellen ist nicht nur absolut gesehen ein trauriger Rekord für das von der Frankengeißel verfolgte Land.Der Kahlschlag, dem in den nächsten vier Jahren fast 18 % der Schweizer Belegschaft des Multis zum Opfer fallen werden, ist umso bitterer als, die Pharmaindustrie eine überragende volkswirtschaftliche Bedeutung für die Eidgenossen besitzt. Mit rund 30 Mrd. sfr oder rund 4,5 % des Bruttoinlandproduktes hat die Bruttowertschöpfung der Pharmaindustrie inzwischen etwa jene der Banken erreicht – allerdings mit 60 % weniger Beschäftigten. Die durchschnittliche Bruttowertschöpfung eines Pharmamitarbeiters in der Schweiz beträgt fast 650 000 sfr pro Jahr – weit mehr als in jedem anderen Industriezweig. In dieser Pro-Kopf-Betrachtung ist der Pharmasektor der mit Abstand größte Wohlstandsbringer der Schweiz.Grund genug also, den jüngsten Zug von Novartis noch etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. In einer kleinen Gemeinde am Rhein, unweit von Basel, betreibt Novartis das größte Produktionswerk mit aktuell 1 670 Mitarbeitern. Dessen Bestand soll nach den vorliegenden Plänen um 700 Mitarbeiter oder rund 40 % verringert werden. Stein ist aber die wahrscheinlich größte Exportmaschine der Schweiz. Novartis verantwortet nach eigenen Angaben 13,6 % aller Warenausfuhren aus der Schweiz. Der größte Teil davon entfällt auf das Werk in Stein.Was geschieht nun mit dem Schweizer Außenhandel, wenn diese Maschine teilweise stillgelegt wird? Zu erwarten wäre ein signifikanter Rückgang der Exporte. Doch Yngve Abrahamsen von der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich winkt ab. “In den Exportzahlen erwarte ich keine große Veränderung, dafür aber bei den Importzahlen”, sagt er. Die überraschende Prognose des erfahrenen Forschers hat ihren Grund im Geschäftsmodell der Pharmabranche. Die Industrie importiere viele eigene Produkte von Tochterunternehmen im Ausland zu tiefen Preisen, um sie in der Schweiz zu konfektionieren und zu deutlich höheren Preisen in die Endmärkte im Ausland zu exportieren, erklärt Abrahamsen. SteueroptimierungsstrategieDas Motiv für diesen Umwegverkehr ist klar: Die Gewinnsteuern liegen in der Schweiz deutlich unter dem Niveau der meisten anderen Länder. Die Industrie spart also viel Geld. Steueroptimierungsstrategien von Unternehmen sind vielen Politikern ein Dorn im Auge, weshalb die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Auftrag der G20-Länder eine international koordinierte Gegenstrategie unter dem Namen “Base Erosion and Profit Shifting” (Beps) ausrollt. Ganz unberechtigt sei die Steueroptimierungspolitik der Schweizer Pharmabranche trotzdem nicht, gibt Abrahamsen zu bedenken. Immerhin hätten die Firmen, allen voran Novartis und Roche, einen großen Teil ihrer Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der Schweiz getätigt. Sie versuchten sich dafür schadlos zu halten, indem sie die Marge in diesem Fall in der Schweiz aufschlügen, sagt Abrahamsen. Richtungswechsel möglichDie Richtung ändern könnten der grenzüberschreitende Medikamenten-Fluss dann, wenn die geplante Schweizer Unternehmenssteuerreform zum Fliegen kommt und die von der EU und von den G20-Ländern seit langem scharf kritisierten Steuerprivilegien für Holding- und Sitzgesellschaften in den Kantonen abgeschafft werden müssen. Dann werden die Pharmafirmen ihre Produkte nicht mehr über die Schweiz reexportieren müssen. Vielmehr können sie sich ihre hiesigen Forschungsaufwendungen dann in einer “Box” steuerlich privilegiert, über Lizenzgebühren finanzieren lassen. Bis dahin werden aber noch einige Jahre ins Land ziehen. In dieser Zeit würden die zunehmenden Importe bei gleichzeitig unveränderten Exporten dazu führen, dass der notorisch hohe Handelsbilanzüberschuss der Schweiz kleiner werde, erklärt Abrahamsen. Im aktuell aufgeheizten Umfeld, in dem Handelsstreitigkeiten das wirtschaftspolitische Klima zwischen den Ländern rund um die Welt vergiftet, dürften die Schweizer Handelsdiplomaten und die für ihre Wechselkurspolitik oft gescholtene Nationalbank darüber insgeheim sogar froh sein.Ungeachtet davon bleibt der große Personalabbau aber ein Stich ins Herz der Schweizer Wirtschaft. Umso mehr, als dieser in seiner volkswirtschaftlichen Wirkung sogar noch weit über die 2150 Stellen hinausgehen können. Der Branchenverband Interpharma rechnet in seiner im November veröffentlichten Studie über die Bedeutung der Pharmaindustrie in der Schweiz vor, dass jede in der Pharmabranche geschaffene Vollzeitstelle 4,2 zusätzliche Arbeitsplätze in anderen Wirtschaftszweigen erzeugt. Nach Adam Riese würde der Stellenabbau bei Novartis somit insgesamt rund 9 000 Arbeitsplätze in der Schweiz kosten.Kommt hinzu, dass der Durchschnittslohn in der Pharmabranche mit 139 000 Franken pro Jahr fast 50 % über dem Niveau der anderen Branchen liegt. Allerdings wird Novartis auf den Umstand verweisen wollen, dass sich die Löhne der geopferten Produktionsjobs in der Schweiz und in Großbritannien eher unter dem Durchschnittsniveau bewegen und dass die erwähnte Multiplikatorlogik in der Generierung von Arbeitsplätzen in anderen Branchen bei Produktionsjobs weniger ausgeprägt zum Tragen komme als die Interpharma-Studie suggeriert. Freilich pflegt Interpharma auf solchen, durchaus berechtigten, Differenzierungen nicht zu bestehen, wenn es darum geht, die Pharmabranche zum Zweck des politischen Lobbyings noch größer zu rechnen, als sie es ohnehin schon ist.