Der stationäre Handel dünnt im Eiltempo aus

Konjunkturpaket führt vor allem zu Mitnahmeeffekten - Kein Zusatzkonsum - Bis zu 200 000 Geschäftsaufgaben in Deutschland

Der stationäre Handel dünnt im Eiltempo aus

Viele Verbände und Ökonomen haben das Konjunkturpaket der Bundesregierung gelobt – auch der Handelsverband Deutschland. Tatsächlich werden Steuerentlastung und Kinderbonus im Einzelhandel vor allem zu Mitnahmeeffekten führen. Zusätzliche Anschaffungen wird es wegen der Rezession und der Sorge um den Arbeitsplatz kaum geben, so dass infolge der Einkaufsbeschränkungen wegen des Coronavirus 2020 bis zu 200 000 Geschäfte aufgeben werden.Von Martin Dunzendorfer, FrankfurtDer stationäre Einzelhandel steckt in der tiefsten Krise der Nachkriegszeit. Und das von der Bundesregierung verabschiedete Konjunkturpaket wird daran nichts ändern, denn niemand aus der Mittelschicht und erst recht nicht die sozial Schwachen werden wegen ein paar Hundert Euro, die nun zusätzlich zur Verfügung stehen, nennenswert mehr einkaufen als zuletzt geplant, wenn gleichzeitig das Land vor einer möglicherweise mehrjährigen Rezession steht und man deswegen um seinen Arbeitsplatz und staatliche Zuschüsse bangen muss. Dass die Reichen und Vermögenden wegen der vorübergehend gesenkten Umsatzsteuer mehr konsumieren, glaubt sowieso niemand, weil sie ohnehin zu jeder Zeit so viel ausgeben, wie sie wollen. HDE zeigt sich zuversichtlichDer Handelsverband Deutschland (HDE) bewertet die Maßnahmen des Konjunkturpakets dennoch positiv: “Sie geben wichtige Impulse, um die Konjunktur wieder anzuschieben.” Die Senkung der Mehrwertsteuer, der Kinderbonus und die Fixierung der EEG-Umlage seien Forderungen des HDE gewesen, die nun im Maßnahmenpaket umgesetzt wurden, heiß es. Die Konjunkturimpulse könnten “auch den Handel wieder in Schwung bringen”, so Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des HDE. Doch bei Licht betrachtet ist es höchst unwahrscheinlich, dass eine erkleckliche Zahl an Bürgern ohne Not zum Beispiel 40 000 Euro für einen neuen Pkw, 4 000 Euro für neue Möbel oder auch nur 400 Euro für eine neue Jacke ausgibt, nur weil man durch eine zeitweilig verringerte Umsatzsteuer einige Euro spart bzw. einen Kinderbonus von 300 Euro erhält, wenn gleichzeitig jeden Tag Unternehmen aus nahezu allen Branchen tiefgreifende Stellenabbaupläne verkünden und die Verbraucherstimmung – wie auch Genth einräumt – in einem Tief ist.Stattdessen werden die Mitnahmeeffekte in den nächsten Monaten eine ganz neue Dimension erreichen, denn natürlich wird jeder, der zu größeren Konsumausgaben gezwungen ist, die Verbilligung begrüßen. Doch wird schon die Ersparnis wohl eher auf die hohe Kante gelegt als für Käufe eingesetzt. Und schon gar nicht kommt es in erhofftem Maße zu den Vorzieheffekten, von denen Politiker und Lobbyisten träumen.Der HDE hofft, dass von der Senkung der Mehrwertsteuer und dem direkt an die Familien gezahlten Kinderbonus “auch der Non-Food-Einzelhandel profitiert, der corona-bedingt unter massiven Umsatzverlusten leidet”. Der letztgenannte Sachverhalt wird – daran wird auch das Konjunkturpaket nichts ändern – zu einer beispiellosen Welle an Geschäftsaufgaben im stationären Einzelhandel führen. Non-Food soll profitierenSchon vor der weltweiten Ausbreitung des Coronavirus und den von vielen Regierungen getroffenen strengen Schutzmaßnahmen, die zur wochenlangen Schließung der meisten Non-Food-Läden führten, war die Wettbewerbsintensität – insbesondere wegen der Online-Anbieter – immens. Nun, da in Deutschland vom 18. März bis 20. April praktisch nur im Internet gekauft werden konnte, kommt zu den gewaltigen Umsatzverlusten aus dieser Zeit noch die Kundenabwanderung hinzu, denn viele Verbraucher ziehen nun Amazon & Co. dauerhaft dem stationären Handel vor. Sie haben in der Lockdown-Phase die Vorteile des Online-Kaufs kennengelernt und wollen sie nun nicht mehr missen. Auch deswegen rechnen Branchenkenner bis zum Jahresende mit bis zu 200 000 Geschäftsaufgaben im stationären Handel hierzulande.Optimisten hatten auf einen Kundenansturm nach Wiedereröffnung der Läden gehofft. Diesen gab es zwar nicht, aber an den ersten Tagen war die Frequenz in vielen Geschäften immerhin hoch bis zufriedenstellend. Danach allerdings ebbte die Besucherzahl schnell ab. Auch die Tendenz, dass einige Verbraucher nun extra viel im stationären Handel einkaufen, um dem drohenden Ladensterben entgegenzuwirken, erweist sich als zu schwach, um die Erlöseinbußen von März und April auch nur annähernd kompensieren zu können. Zudem waren die Händler gezwungen, vier- bis fünfstellige Summen in den Gesundheitsschutz (Plexiglasschutz etc.) zu investieren. Kein Einkaufsbummel mehrIn der Phase der Ladenschließungen von Mitte März bis zur vorletzten Aprilwoche haben Einzelhändler in Deutschland nach Schätzungen rund 10 Mrd. Euro an Umsatz eingebüßt. Hochrechnungen bis zum Jahresende zufolge wird der Erlös der Non-Food-Händler zwischen 24 und 40 Mrd. Euro unter den Vorjahreswerten von etwa 177 Mrd. Euro liegen (vgl. BZ vom 30. Mai). Denn die trüben Konjunkturaussichten sowie die Hygieneauflagen (Maskenpflicht, Abstandsstreifen auf dem Boden, Plexiglasscheiben an den Kassen, Zugangsbeschränkungen) verderben vielen Konsumenten die Kauflaune. Mancher Kunde bricht den Kauf ab, weil er auf Einlass in den Laden warten muss. Durch Einkaufszentren laufen manche Menschen, ohne etwas zu kaufen; andere kaufen nur schnell, was sie benötigen. Kurz gesagt: Es wird nicht mehr gebummelt, und es fehlt an Spontankäufen.Gemäß einer HDE-Trendumfrage im Mai bei mehr als 600 Einzelhandelsunternehmen aus dem Non-Food-Bereich erzielten 29 % der Non-Food-Händler weniger als 50 % der Vorjahreserlöse. Weitere 29 % liegen auf einem Niveau zwischen 51 und 75 %. 38 % der vom HDE befragten Manager erklärten, der Bestand ihres Unternehmens stehe auf dem Spiel. Diese Händler seien auf neue, zusätzliche finanzielle Hilfen des Staates angewiesen, hieß es vom Verband. Nun hat Berlin auch Überbrückungshilfen genehmigt. Die Zuschüsse können zum Ausgleich der krisenbedingten Umsatzverluste beitragen, doch sind zuvor sehr hohe Hürden zu überwinden. Das befürchtete Massensterben unter den Händlern wird dadurch nicht verhindert.Zudem droht eine “zweite Welle” bzw. ein zweiter Lockdown. Klar ist: Jede weitere Beschränkung des Einkaufs würde die Zahl der “freiwilligen” Geschäftsaufgaben und Insolvenzen weiter nach oben treiben.