Deutsche Autoindustrie gestaltet Mobilität proaktiv mit

Branche bringt sich beim autonomen Fahren in Position - Evolution statt Disruption beschreibt die künftige Entwicklung

Deutsche Autoindustrie gestaltet Mobilität proaktiv mit

Das selbstfahrende Auto und seine Zukunft nehmen in den Medien einen sehr prominenten Platz ein und drängen andere wichtige Denkansätze wie den Elektroantrieb oder alternative Mobilitätskonzepte in den Hintergrund. Das ist das Ergebnis einer kürzlich von Horváth & Partners durchgeführten Analyse internationaler Publikationen. Weltweite Aufmerksamkeit erfährt das Thema, da offensichtlich der Wunsch nach weniger Verkehrstoten auf den Straßen, die auf menschliches Versagen zurückzuführen sind, groß ist. Rennen um die EinführungAußerdem begreifen die Menschen nach und nach den Nutzen, den der selbststeuernde Wagen für Berufstätige, hilfsbedürftige Menschen oder gar Kinder bietet. Er bedeutet Mobilität auf Abruf und die Möglichkeit, Fahrtzeit als effiziente Lebenszeit zum Arbeiten oder für andere Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken oder Schlafen nutzen zu können.Das Rennen um die Markteinführung des ersten vollautonom fahrenden Autos ist längst in vollem Gange. Die Testwagen haben schon Millionen und Abermillionen an Kilometern absolviert. Die dabei gesammelten Daten sind das Fundament, um die Komplexität der realen Verkehrsbedingungen zu erfassen und so die Sicherheit beim autonomen Fahren gewährleisten zu können. Dabei lernt das Fahrzeug aus dem Fahrverhalten des Menschen und aus seiner Umwelt, die mit Kameras erfasst wird. Eine Methodik dafür sind tiefe neuronale Netze (Deep Learning), die dem menschlichen Gehirn sehr ähnlich sind und über die Zeit automatisch dazulernen können.Der Tesla-Autopilot, der permanent Informationen an den Hersteller sendet, ist zum Beispiel bislang mehr als 2 Milliarden Kilometer gefahren. Die Unfälle mit tödlichem Ausgang bei der Erprobung, wie im Fall Tesla im Mai des vergangenen Jahres geschehen, verdeutlichen jedoch die technologische Herausforderung und Notwendigkeit umfangreicher Fahrversuche.Dennoch wird bis Ende dieses Jahres ein Tesla in den Vereinigten Staaten autonom von einer Küste zur anderen fahren können. Diese Ansicht vertritt zumindest Firmengründer Elon Musk. “Und wenn es nicht Ende des Jahres sein wird, dann kurz darauf”, versicherte er kürzlich in einer Analystenkonferenz im August.Angesichts dieses Potenzials in den USA stellen sich für Deutschland und seine bedeutende Fahrzeugindustrie einige Fragen – so zum Beispiel: Verschlafen unsere Autobauer die Zukunft? Sind Google, Apple und Tesla bei der technologischen Entwicklung nicht mehr einzuholen? Diesen Eindruck musste der Beobachter lange Zeit gewinnen. Nicht zuletzt da die großen IT-Firmen aus dem Silicon Valley mehr als selbstbewusst verkündet haben, dass sie über einen deutlichen Innovationsvorsprung verfügen.Dass dem nicht so ist, zeigen die Auswertungen der Patentanmeldungen der vergangenen sechs Jahre, die das Institut der Deutschen Wirtschaft vorgenommen hat: Bei der Entwicklung der Brückentechnologien wie Abstandsregelung, Spurhalteassistent oder Einparkhilfen liegen die deutschen Autohersteller und Zulieferer weit vor Google & Co. Während die Software-Hersteller in diesem Bereich des autonomen Fahrens lediglich 7 % der Patente angemeldet haben, entfielen auf die Unternehmen aus Deutschland knapp 60 %. Deutschland als TestfeldWie ist diese Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und den harten Fakten zu erklären? Die deutsche Automobilindustrie hat tatsächlich die Zukunft der Mobilität schon lange proaktiv mitgestaltet und dabei auf Kollaboration mit verschiedenen Partnern gesetzt. Aber vielleicht nicht so medienwirksam wie die Konkurrenz aus Übersee. Letztlich wird sie aber auch bei der Entwicklung des autonomen Fahrens die führende Rolle übernehmen.Wie dies aussehen kann, wird gerade konkret im Norden des Landes getestet. Hamburg als Modellstadt für autonomes und vernetztes Fahren erprobt zusammen mit dem Volkswagen Konzern (VW) neue Mobilitätskonzepte. Es geht dabei um führerlose Fahrzeuge, eine smarte Verkehrssteuerung und neue Antriebsmodelle, so dass der Verkehr laut Absichtserklärung der beiden Partner “sauberer, leiser und sicherer” wird. Außerdem will sich VW daran beteiligen, Ideen zu entwickeln, bei denen das eigene Auto nur im Mix mit anderen Verkehrsmitteln wie beispielsweise Fahrrad, Bus und Bahn sowie Leihfahrzeugen eine Rolle spielt.Doch auch im Süden der Republik ist einiges in Bewegung: Daimler und Bosch testen etwa in Stuttgart ein System zum autonomen Einparken, bei dem die Infrastruktur des Parkhauses mit dem Auto kommuniziert und es zum Parkplatz lenkt. Die Technologie-Giganten Google und Apple haben derweil ihre Pläne konkretisiert und verabschieden sich von der Produktion autonomer Fahrzeuge. Sie suchen Partner und wollen nur noch die digitalen Komponenten für Fahrzeuge liefern. Herstellen werden diese die klassischen Autobauer.Die IT-Industrie hat verstanden, dass der Bau von Smartphones nicht mit den Anforderungen an Sicherheit und Langlebigkeit eines Automobils vergleichbar ist. Hier offenbaren sich die Grenzen durch weitaus höhere Markteintrittsbarrieren im Vergleich zu anderen Beispielen gelungener Disruption wie Uber im Personentransport oder Airbnb in der Hotellerie. Kein radikaler UmbruchEvolution statt Disruption – so kann die zukünftige Entwicklung des autonomen Fahrens beschrieben werden. Es wird noch einige Zeit dauern, bis die letzten Hürden beseitigt sind. Die vom Bundesverkehrsministerium eingesetzte Ethikkommission hat Leitlinien für selbstfahrende Autos auf deutschen Straßen vorgestellt: Ein konsequentes Absichern der autonomen Fahrzeuge gegen Hackerangriffe und das Schaffen eines adäquaten gesetzlichen Rahmens sind dabei Kernvoraussetzungen.Ganz deutlich formuliert: Das selbstfahrende Auto ist nichts, was nur in Science-Fiction-Filmen vorkommt. Es wird aber auch nicht von heute auf morgen das Straßenbild prägen. Bei etwa 45 Millionen Fahrzeugen, die in Deutschland derzeit unterwegs sind, wird die Umstellung noch einige Jahre in Anspruch nehmen. Bis zum Jahr 2035 werden teil- und vollautomatisierte Fahrzeuge zwischen 20 und 30 % der globalen Produktion ausmachen. Dabei werden solche Wagen Teil eines vernetzten und intelligenten Mobilitäts- und Verkehrsleitsystems in den Städten sein. Neue GeschäftsfelderÜbernimmt die Technik das Fahren, gewinnt der Mensch an Zeit, die er auf verschiedene Art und Weise nutzen kann. Hier eröffnen sich neue Geschäftsfelder, da die Menschen bereit sind, für Mehrwertdienste in autonomen Fahrzeugen den einen oder anderen Euro zu bezahlen, der ihnen hilft, während der Fahrt mit Familie und Freunden zu kommunizieren, zu arbeiten oder zu spielen. Das ist das Ergebnis der Studie “The Value of Time – Nutzerbezogene Service-Potenziale durch autonomes Fahren”, die Horváth & Partners und das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO veröffentlicht haben.1 500 Autofahrer aus Deutschland, den USA (Kalifornien) und Japan sollten zu möglichen Aktivitäten während des autonomen Fahrens und der damit verbundenen Zahlungsbereitschaft Fragen beantworten. Das Ergebnis: Drei Viertel der befragten Autofahrer sind bereit, für Mehrwertdienste zu zahlen. Für die sechs Kategorien Kommunikation, Produktivität, Grundbedürfnisse, Wohlfühlen, Information und Unterhaltung waren die potenziellen Kunden bereit, zwischen 24 und 37 Euro pro Monat auszugeben. Enormer Markt deutet sich anAllein für Deutschland deutet sich hier ein enormer Markt an. Die Studienautoren gehen davon aus, dass diese Angebote für das Auto im nächsten Jahrzehnt ein jährliches Umsatzvolumen von mehreren Milliarden Euro bergen. In Japan und den Vereinigten Staaten sind die Menschen sogar gewillt, noch mehr Geld als die Deutschen in die Hand zu nehmen.Für Angebote rund um Kommunikation und Produktivität ist die Bereitschaft am größten, die hart verdienten Yen, Euro oder Dollar zu investieren. Die Menschen in allen drei Ländern haben an Diensten aus diesen beiden Bereichen das größte Interesse – jedoch in unterschiedlicher Ausprägung. Dementsprechend können die unterschiedlichsten Anbieter signifikante Umsatzanteile gewinnen: Hersteller technischer Endgeräte und digitale Serviceanbieter gehören zu den potenziellen Gewinnern dieser Entwicklung. Die Automobilbranche muss sich hier also wappnen. Für sie zeichnet sich eine zunehmende Konkurrenz durch branchenfremde Unternehmen ab. Aber letztlich auch eine Chance auf mehr Umsatz und Gewinn.—Thomas Becker, Mobilitäts- und Automobilexperte bei der Managementberatung Horváth & Partners