RECHT UND KAPITALMARKT

Die Musterfeststellungsklage wird kommen

Der Diskussionsentwurf des Bundesjustizministeriums zeigt, wie kollektiver Rechtsschutz für Verbraucher künftig aussehen könnte

Die Musterfeststellungsklage wird kommen

Von Dr. Carsten van de Sande und Dr. Philipp Hanfland *)Die Möglichkeiten kollektiven Rechtsschutzes für Verbraucher sind in jüngster Zeit wieder in den Fokus des politischen Interesses gerückt. Im Juli hat das Bundesjustizministerium einen Diskussionsentwurf für ein Gesetz zur Einführung einer Musterfeststellungsklage vorgelegt. Nach der Bundestagswahl ist nicht mehr damit zu rechnen, dass der Diskussionsentwurf Gesetz wird. Er zeigt aber, welche Fragen sich im Zusammenhang mit kollektivem Rechtsschutz für Verbraucher stellen, und dient daher auch als Orientierung für künftige Vorhaben. Der Entwurf verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele: Zum einen soll den Geschädigten bei Massenschäden eine effektive Rechtsdurchsetzung ermöglicht werden. Zum anderen soll die Einführung von Sammelklagen nach dem Muster US-amerikanischer Class Actions vermieden werden.Der Entwurf hat sich daher für das – in Deutschland von Streitigkeiten über kapitalmarktrechtliche Ansprüche bekannte – Modell des Musterverfahrens entschieden. Anders als in einem Sammelklageverfahren sollen die Ansprüche nicht von einem Kläger stellvertretend für die Gesamtheit der möglichen Anspruchsberechtigten geltend gemacht werden können. Stattdessen sollen Rechts- und Tatsachenfragen, die für eine Vielzahl von Ansprüchen von Bedeutung sind, in einem gerichtlichen Verfahren für die anspruchsberechtigten Verbraucher und das Unternehmen, gegen das sich die Ansprüche richten, verbindlich festgestellt werden. Die Geltendmachung der Ansprüche obliegt in diesem Modell weiter jedem einzelnen Anspruchsberechtigten. Sie wird jedoch dadurch erleichtert, dass die Fragen, die Gegenstand des Musterverfahrens waren, in den Folgeverfahren zwischen einzelnen Verbrauchern und dem Unternehmen nicht noch einmal entschieden werden müssen.Nach dem Entwurf dürfen nur bestimmte Verbraucherschutzverbände eine Musterfeststellungsklage erheben. Hierdurch soll erreicht werden, dass Musterverfahren nur im Interesse der geschädigten Verbraucher eingeleitet werden. Zudem soll das Entstehen einer “Klageindustrie” verhindert werden, in der letztlich die Interessen der Klägeranwälte darüber entscheiden, welche Ansprüche geltend gemacht werden. Allerdings sind Verbraucherverbände erfahrungsgemäß aufgrund ihrer finanziellen und personellen Ausstattung nicht in der Lage, umfangreiche Verfahren zu führen, die für sie mit einem erheblichen, im Falle des Unterliegens möglicherweise existenzbedrohenden Prozesskostenrisiko verbunden sind. Das Entstehen einer “Klageindustrie” würde hierdurch nicht verhindert. Dies zeigt die Entwicklung in den Niederlanden, wo Klägeranwälte selbst oder unter Einschaltung von Strohmännern Verbände – dort üblicherweise in der Form einer Stiftung – gründen, um sie zur Geltendmachung von Ansprüchen bzw. als Druckmittel zum Abschluss von Vergleichen einzusetzen. Anmeldung im RegisterIst ein Musterverfahren anhängig, können Verbraucher, die glauben, aus demselben Lebenssachverhalt Ansprüche zu haben, diese zur Eintragung in ein neu einzurichtendes Klageregister anmelden. Eingetragen wird in das Register ohne inhaltliche Prüfung, ob die Ansprüche bestehen. Für die Anmeldung fällt nur eine geringe Gebühr an. Sie hemmt die Verjährung der Ansprüche, soweit ihnen tatsächlich der gleiche Lebenssachverhalt zugrunde liegt wie dem Musterverfahren. Damit wird eine kostengünstige Möglichkeit für Verbraucher geschaffen, ihre Ansprüche bis zum Abschluss des Musterverfahrens zu sichern.Beteiligte des Musterverfahrens sollen nur der klagende Verband und das beklagte Unternehmen sein. Der Entwurf schließt die Möglichkeit der Beteiligung selbst für solche Dritten aus, die ein rechtliches Interesse am Ausgang des Verfahrens haben. Das überzeugt nicht. Denn das Musterverfahren berührt nicht nur die Interessen der geschädigten Verbraucher, es kann auch Dritte betreffen, z. B. weil auch deren rechtliche Beziehungen zu dem beklagten Unternehmen von der Beantwortung der Fragen abhängen, die Gegenstand des Verfahrens sind. Deutlich wird dies am Beispiel der Haftung für Produktmängel innerhalb einer Herstellungs- oder Lieferkette: Die Frage, ob ein Produkt mangelhaft war, betrifft regelmäßig nicht nur das Verhältnis zwischen dem Hersteller des Endprodukts und den Endverbrauchern, sie ist auch entscheidend dafür, ob der Hersteller wegen des Mangels Rückgriff bei Lieferanten nehmen kann. Das Unternehmen hat Interesse daran, dass die Feststellung eines Mangels auch gegenüber Lieferanten Bindungswirkung entfaltet. Umgekehrt dürften Lieferanten daran interessiert sein, für sie ungünstige Feststellungen im Musterverfahren zu vermeiden. Eine auf effiziente Klärung der wesentlichen Streitfragen bedachte Regelung sollte daher die Einbeziehung solcher Dritten ins Musterverfahren ermöglichen, die ein rechtliches Interesse an dem Verfahrensausgang darlegen können. Andernfalls müsste über dieselben Fragen in weiteren Verfahren – möglicherweise mit abweichendem Ergebnis – erneut gestritten werden. Keine WaffengleichheitEbenfalls zu kritisieren ist, dass der Entwurf den Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit zu Lasten des beklagten Unternehmens aufgibt. Zwar soll nach dem im Entwurf vorgesehenen Gesetzeswortlaut auch das Nichtbestehen eines Anspruchs festgestellt werden können. Dem Entwurf lässt sich aber nicht entnehmen, ob das beklagte Unternehmen einen Antrag dieses Inhalts tatsächlich stellen kann. Ein Unternehmen, gegen das eine Vielzahl von Verbrauchern Ansprüche wegen ein und desselben Lebenssachverhalts geltend macht, sollte die Möglichkeit haben, ein Musterverfahren einzuleiten. Jedenfalls sollte die Möglichkeit der Widerklage vorgesehen werden.Eng hiermit verbunden ist die – im Entwurf ausdrücklich offengelassene – Frage der Bindungswirkung eines Musterfeststellungsurteils. Der Entwurf stellt zwei Ansätze zur Diskussion. Nach einem Ansatz soll das Urteil das Gericht im Folgeverfahren zwischen einem Verbraucher und dem beklagten Unternehmen stets binden. Demgegenüber soll die Bindungswirkung nach dem anderen Ansatz nur eintreten, wenn der Verbraucher sich darauf beruft. Das würde bedeuten, dass eine einheitliche Entscheidung der wesentlichen Streitfragen nur dann möglich ist, wenn das Musterverfahren zu einem für den Verbraucher günstigen Ergebnis führt. Andernfalls wird er sich nicht auf das Urteil berufen. Über die im Musterverfahren entschiedenen Fragen müsste dann erneut entschieden werden. Den Zielen des Entwurfs wird daher nur eine Lösung gerecht, die die Bindungswirkung des Urteils unabhängig davon eintreten lässt, ob sich eine Partei darauf beruft.Der Entwurf sieht schließlich die Möglichkeit vor, Ansprüche aus dem Lebenssachverhalt, der Gegenstand des Musterverfahrens ist, durch gerichtlich genehmigten Vergleich einvernehmlich zu erledigen. Genehmigt das Gericht den Vergleich, gilt dieser für und gegen sämtliche Verbraucher, die ihre Ansprüche zum Klageregister angemeldet haben und die nicht ausdrücklich erklärt haben, dass sie den Vergleich nicht gegen sich gelten lassen wollen (Opt-out). Der genehmigte Vergleich wird wirksam, wenn innerhalb eines Monats nach Zustellung weniger als 30 % der Anmelder ihren Austritt aus dem Vergleich erklären. Diese Regelung ist zu begrüßen. Allerdings wäre dem Gesetzgeber der Mut zu wünschen, die Wirkung des Vergleichs auch auf solche geschädigten Verbraucher zu erstrecken, die ihre Ansprüche nicht angemeldet haben, diese aber auch nicht mit individuellen Klagen geltend machen.Wie die meisten US-Class-Actions durch Vergleich beendet werden, setzt auch der Entwurf darauf, dass das beklagte Unternehmen angesichts eines ungünstigen Ausgangs des Musterverfahrens zu einer vergleichsweisen Regelung mit den geschädigten Verbrauchern bereit sein wird. In der Praxis ist damit zu rechnen, dass Musterverfahren künftig mit ähnlichen, auf die Erhöhung des Vergleichsdrucks ausgerichteten Methoden geführt werden wie Class Actions. Unternehmen sind daher gut beraten, sich frühzeitig auf die Möglichkeiten vorzubereiten, die der kollektive Rechtsschutz Verbrauchern künftig zur Geltendmachung ihrer Ansprüche bieten wird.—-*) Dr. Carsten van de Sande und Dr. Philipp Hanfland sind Partner von Hengeler Mueller.