GASTBEITRAG

Die nächste Revolution der Produktivität

Börsen-Zeitung, 10.4.2013 Die noch bis Freitag dauernde Hannover Messe mit dem Fokus Integrated Industry macht deutlich, was führende Industrieunternehmen aktuell und in Zukunft antreibt. Auf der weltweit wichtigsten Industriemesse werden Werkstücke...

Die nächste Revolution der Produktivität

Die noch bis Freitag dauernde Hannover Messe mit dem Fokus Integrated Industry macht deutlich, was führende Industrieunternehmen aktuell und in Zukunft antreibt. Auf der weltweit wichtigsten Industriemesse werden Werkstücke mit eigenem Produktionsgedächtnis präsentiert, Maschinen, die Fehler erkennen und sich selbst korrigieren. Es wird von Smart Factories gesprochen, die ihre Produktion weitgehend selbst steuern und Teile nachordern. Zusammengefasst wird all das unter dem Begriff Industrial Internet oder Industrie 4.0. Sogar von einer vierten industriellen Revolution ist die Rede.Dahinter verbirgt sich die Zuversicht der entwickelten Industrieländer, nach Jahren im Zeichen von Deindustrialisierung und Produktionsverlagerung wieder deutlich an Wettbewerbsfähigkeit zuzulegen. Intelligent vernetzte Fabriken und Maschinen könnten ein Gegengewicht zur Niedriglohnkonkurrenz aus den Schwellenländern bilden. Für Smart Factories, innovative Produkte und komplexe Prozesse braucht es schließlich hoch qualifizierte Angestellte. Gerade Deutschland mit einem nach wie vor hohen Industrieanteil und Ausbildungslevel sollte darauf bedacht sein, diese Potenziale früh zu erkennen und zu nutzen. Maschinen kommunizierenDas Industrial Internet wird eine Revolution der Produktivität mit gigantischen Effizienzgewinnen auslösen. Zwar liefern Maschinen nicht erst seit heute eine Flut von Daten. Die Instrumentierung einer einzelnen Gasturbine kann Messwerte im Umfang von mehreren Hundert Gigabyte pro Tag erzeugen. Allerdings geht bislang ein Großteil dieser riesigen Datenmengen ungenutzt verloren oder kann nicht zeitnah ausgewertet werden.Die fallenden Kosten sowohl für die Messtechnik als auch für die erforderlichen Rechen- und Speicherkapazitäten ermöglichen jetzt den Aufbau eines globalen Ökosystems intelligenter Maschinen. Hat das Internet zunächst die Kommunikation zwischen den Menschen verbessert, bekommt mit dem Industrial Internet jetzt die Maschine nicht nur eine Stimme, sondern auch die analytische Intelligenz, Probleme vorherzusagen und zu verhindern.Gerade bei kombinierten Angeboten von technischen Produkten und darauf abgestimmten datenbasierten Dienstleistungen, ermöglicht das Industrial Internet die Abkehr vom klassischen Paradigma des Break Fix (reparieren bei Defekt) hin zu einem Predict-and-prevent-Modell (vorhersehen und vermeiden). Maschinen werden mit analytischen Fähigkeiten ausgestattet und übermitteln Informationen und Prognosen, auf die Servicemitarbeiter direkt reagieren können. Probleme werden so schon in der Entstehung entdeckt, ein technisches Versagen kann durch frühzeitigen Eingriff abgewendet werden. Für Unternehmen werden sich im Servicebereich der Datenauswertung enorme Wachstumspotenziale ergeben.Ein konkretes Beispiel für die “intelligente Vernetzung” hat General Electric (GE) vor einigen Wochen mit der Einführung einer der weltweit ersten intelligenten Windenergieanlage geliefert. Ausgerüstet mit modernster Steuerung, kommuniziert sie auf Basis von Vorhersage-Algorithmen und kontinuierlicher Analyse zehntausender Datenpunkte permanent mit benachbarten Anlagen, Wartungstechnikern und Spezialisten des Betreibers. Solche Formen intelligenter Steuerung und Vernetzung können einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die oft nur unregelmäßig verfügbaren Erneuerbare-Energie-Ressourcen effizienter nutzbar zu machen. MilliardenpotenzialEin Blick auf den Energiebereich zeigt auch, welche enormen Einsparpotenziale der Einsatz von Technologien des Industrial Internet ermöglicht: Um eine ausreichende und sichere Energieversorgung zu gewährleisten, sind weltweit Investitionen im Wert von 1,9 Bill. Dollar pro Jahr erforderlich. Gelingt es, die Produktivität dieses Systems durch den Einsatz von moderner Analytik und Kommunikationstechnologie auch nur um einen Prozentpunkt zu verbessern, entspricht das einer jährlichen Ersparnis von nahezu 20 Mrd. Dollar.Auch wenn sich erste vielversprechende Anwendungen abzeichnen, ist das Industrial Internet heute noch überwiegend ein Thema für Forschung und Entwicklung. GE hat im vergangenen Jahr rund 1 Mrd. Dollar in den Aufbau eines neuen Software-Entwicklungszentrums im Silicon Valley investiert.Ein bedeutendes Forschungsfeld ist etwa die Datensicherheit: Wo ganze Industriebereiche und Produktionsstandorte vernetzt operieren sollen, muss ein Höchstmaß an IT-Sicherheit zum Schutz vor Industriespionage und Cyberangriffen garantiert sein. Anbieter, denen es gelingt, das Industrial Internet nicht nur effizient, sondern auch sicher zu machen, stehen immense Marktpotenziale offen. Fehlende Normen und Standards sowie ein erhöhter Qualifizierungsbedarf des Personals sind weitere Hürden, die in den kommenden Jahren zu nehmen sind. Vertiefte Kenntnisse in Informations- und Kommunikationstechnologie werden zur Grundvoraussetzung vieler Tätigkeiten in der Produktion der Zukunft. Disruptive EffekteOb das Industrial Internet dem Anspruch eine vierten industriellen Revolution gerecht wird, wird sich zeigen. Das Potenzial für branchenübergreifende disruptive Effekte ist aber zweifellos vorhanden. Quer über alle Industriebereiche müssen sich Firmen auf fundamentale Veränderungen und neue Wettbewerbssituationen einstellen, dürfen aber auch mit der Erschließung neuer Produktivitätslevel rechnen.