WENN KAPITAL WIEDER KOSTET

Die Ruhe vor dem Sturm

Sanierungsexperten uneins über Folgen der Zinswende - Gefahr: Strukturbrüche

Die Ruhe vor dem Sturm

Von Annette Becker, Düsseldorf”Gehen uns die Pleiten aus?” Diese provokante Frage stellte Helmut Rödl aus dem Vorstand der Wirtschaftsauskunftei Creditreform schon im Sommer 2015. Damals wurden im Gesamtjahr weniger als 24 000 Unternehmensinsolvenzen gezählt. 2017 dürften weniger als 21 000 Firmen den Gang zum Amtsgericht angetreten haben – der niedrigste Stand seit 1994.Zwar verharrt das Schadenvolumen aufgrund einiger Großinsolvenzen wie Air Berlin, Alno oder Solarworld weitgehend auf Vorjahresniveau, doch geht es der deutschen Wirtschaft insgesamt so gut wie lange nicht. Fast eine Dekade währt der Konjunkturaufschwung schon, die stabilste Aufschwungphase nach dem Zweiten Weltkrieg, und besser noch: Die deutsche Volkswirtschaft steuert 2017 auf das höchste Wachstum seit sechs Jahren zu.Grund zur Freude, zumal der positive Trend ungebrochen scheint. Zugleich aber macht sich ob dieser bemerkenswerten Wachstumszahlen ein ungutes Bauchgefühl breit, allen voran im Kreis von Sanierungsexperten und das nicht nur, weil ihnen die Arbeit auszugehen droht. Eingedenk des Einbruchs 2008 und 2009 lautet die unausgesprochene Frage: Wie lange kann das noch gut gehen? Erste KrisensignaleNach einer Analyse von Roland Berger zeigt ein Drittel der Unternehmen im deutschsprachigen Europa erste, wenn auch schwache Krisensignale mit Umsatz- und Ergebnisrückgängen. Gleichwohl geben die Unternehmensberater Entwarnung, zeichnet sich bei den Faktoren, welche die Konjunktur in jüngerer Vergangenheit unterstützten, doch vorerst keine Trendwende ab – weder mit Blick auf den Wechselkurs noch auf die Rohstoffpreisentwicklung und schon gar nicht mit Blick auf die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB).Im Gegenteil: Die Fachwelt ist sich einig, dass die EZB frühestens Anfang 2019 die Zinswende einleiten wird. Ganz unterschiedlich ist dagegen die Einschätzung der Folgewirkung. “Da der erste Zinsschritt moderat ausfällt, bleiben die Auswirkungen aber auch dann eng begrenzt”, glaubt Klaus Fuest, Chefökonom von Roland Berger, denn “der Zinsanstieg schlägt nicht eins zu eins aufs Ergebnis durch.” Frank Grell, Partner der Sozietät Latham & Watkins, sieht das anders: “Der erste Zinsschritt wird eine große Wirkung haben.” Die Stimmung werde schlagartig drehen und finanzierungsseitig komme es zu flächendeckenden Problemen. Schon heute verdienen nach Angaben von Creditreform gut 15 % der Unternehmen operativ weniger, als sie an Zinsaufwand zu schultern haben.Dabei herrscht in der Finanzierung eitel Sonnenschein. Um Kredite überhaupt noch an den Unternehmer zu bringen, verzichten die Banken vielfach auf Klauseln in Kreditverträgen, die ihnen beim Verfehlen von Ertragskennziffern Kündigungsrechte oder Zugriff auf Sicherheiten einräumen. Diese “Covenant Lite”-Strukturen geben den Firmen hohe Flexibilität. Zugleich stehen die Fremdkapitalmärkte weit offen. Mit knapp 88 Mrd. Euro wurde der 2014 geschriebene Emissionsrekord am europäischen High-Yield-Markt (inklusive Großbritannien) schon Anfang Dezember eingestellt. Auch der Schuldscheinmarkt brummt.Der Verschuldungsgrad der Unternehmen ist zwar noch niedriger als 2007, doch grundsätzlich haben die Firmen den Verschuldungshebel schon recht hoch geschoben. “Fünf ist die neue Vier”, konstatieren Sanierungsexperten mit Blick auf das Verhältnis des operativen Ergebnisses zu den Nettoschulden. Wenn es dereinst nicht mehr ganz so rund läuft, wird die Verschuldung zum Problem, so die Befürchtung.Zugleich liegt in der Vielzahl der Finanzierungsinstrumente die künftige Herausforderung, glaubt Grell. Denn der Kreis der Gläubiger wird bunter und die Verfahren werden somit komplexer. Ein möglicher Ausweg ist das vorinsolvenzliche Sanierungsverfahren. “Wir brauchen den präventiven Restrukturierungsrahmen. Dieses Verfahren hilft oft, auch bei unterschiedlichen Interessen der Fremdkapitalgeber eine konsensuale Lösung zu finden”, sagt Wolfgang Herrmann, Partner bei Roland Berger. Denn das Instrument erlaubt, gezielt in die Rechte einzelner Gläubiger einzugreifen. Blockierern würde somit das Handwerk gelegt.Sorgen bereiten den Sanierungsexperten aber auch Strukturbrüche – sei es E-Mobilität in der Autoindustrie, die Energiewende oder auch die Digitalisierung. Die Unternehmen müssten die guten Zeiten nutzen, um ihre Geschäfte zukunftsfähig aufzustellen, lautet der Rat. Allerdings ist das kein leichtes Unterfangen, wie Siemens gerade exemplarisch belegt. Denn Werksschließungen und Massenentlassungen stoßen weithin auf Unverständnis, wenn zugleich die Gewinne sprudeln.