Regine Siepmann und Michael Kramarsch

„Die Unternehmen laufen ins offene Messer“

Über die Auslegung neuer Vorgaben zur Veröffentlichung der Managersaläre wird heftig gestritten. Unternehmensberater befürchten ein Abstimmungsdesaster auf den Hauptversammlungen 2022.

„Die Unternehmen laufen ins offene Messer“

Von Sabine Wadewitz, Frankfurt

Mit Umsetzung der EU-Aktionärsrechterichtlinie in deutsches Recht müssen börsennotierte Unternehmen höhere Anforderungen in der Vorstandsvergütung erfüllen. Die Aufsichtsräte sind aufgefordert, ein verständliches System zur Bezahlung der Führungsriege festzulegen. Die Anteilseigner bekommen mehr Mitwirkung, hat doch die Hauptversammlung mindestens alle vier Jahre über das System der Vorstandsvergütung abzustimmen – oder aktuell nach einer wesentlichen Änderung. Die Gesellschaften müssen zudem jährlich einen „klaren und verständlichen“ Vergütungsbericht erstellen und der Hauptversammlung zur Billigung vorlegen.

Hinter den Kulissen ist aktuell ein heftiger Streit entbrannt, wie die Vergütungsberichte nach den neuen gesetzlichen Vorgaben zu gestalten sind. Gesetzesinhalt und Begrifflichkeiten passen nicht mehr zu dem, was sich in den vergangenen Jahren aus Sicht von Investoren als Best Practice herausgebildet hat. Institutionelle Anleger bevorzugten eine Darstellung, was Vorständen im jeweiligen Geschäftsjahr tatsächlich zugeflossen ist. Daraus war nicht nur abzulesen, was den Führungskräften an Vergütung gewährt wurde, sondern wie viel Geld tatsächlich auf dem Konto gelandet ist – zum Beispiel aus mehrjährigen aktienbasierten Komponenten.

Unklare Zuordnung

Die einst im Deutschen Corporate Governance Kodex verankerten Mustertabellen sind mit der gesetzlichen Neuregelung aus dem Kodex gestrichen worden. Zudem führt der Gesetzgeber neue Begriffe ein beziehungsweise definiert vertraute Bezeichnungen um. So soll der Vergütungsbericht nun darstellen was den Vorständen „zugesagt, gewährt und geschuldet“ wird –  bislang haben Rechnungslegungsstandards und Praxis nur unterschieden zwischen Gewährung und Zufluss. Dabei wird in der neuen Regelung im Aktienrecht die „gewährte“ Vergütung gleichgesetzt mit „faktisch zugeflossen“, wie den Begleittexten zum Gesetz zu entnehmen ist. Geschuldete Vergütung soll alle Bestandteile umfassen, die fällig sind, aber noch nicht erfüllt wurden.

Aus dieser neuen Semantik ergeben sich Unsicherheiten, wie Vergütungsbestandteile zuzuordnen sind. Zudem löst sich die neue gesetzliche Regelung in erheblichem Ausmaß vom Zufluss-Kriterium, Periodisierungsregeln gelten nicht. Somit wird der Einjahresbonus, weil er erst mit Zielerreichung feststeht, nicht mehr dem Geschäftsjahr zugewiesen, in dem er verdient wird, sondern dem Folgejahr, weil er in der Regel erst am Anfang dieses neuen Turnus überwiesen wird.

Zudem soll das Einräumen von Aktienoptionen zum Zeitpunkt der Gewährung als Zufluss erfasst werden, so dass diese Komponente der Long Term Incentives am Tag der Zusage bewertet würde und im Dunkeln bliebe, welchen Geldbetrag der Manager am Ende einsteckt – das sind oft hohe Beträge (siehe Grafik). Im Fokus stünde damit die Vergütungszusage und nicht, welche Zahlungsverpflichtung diese Zusage langfristig nach sich zieht.

Prüfer am Drücker

Im Spiel des Austarierens sind nicht nur Investoren und Unternehmen aktiv, auch der Abschlussprüfer ist involviert. Er muss Sorge tragen, dass alle geforderten Angaben vorhanden sind, die Darstellung also vollständig ist.

Vergütungsberater erleben gegenwärtig bei der Erstellung der Geschäftsberichte ein Hauen und Stechen zwischen Unternehmen und Abschlussprüfern, wie Michael Kramarsch, Managing Partner der HKP Group, und Regine Siepmann, Partner der Unternehmensberatung, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung erläutern. Die „eingeübten Konzepte“ zur Schaffung von Transparenz in der Vorstandsvergütung, hergeleitet aus den alten Kodex-Tabellen und dem Handelsgesetzbuch, gebe es nicht mehr. „Damit ist alles untergegangen, was an intelligenter Auslegungshilfe verfügbar war“, moniert Kramarsch, der die Kodex-Tabellen mit entwickelt hatte.

Investoren stellten mit „Pay-for-Performance“ eine zentrale Forderung an die Vergütungssysteme. „Wenn in der Hauptversammlungssaison 2022 über den Vergütungsbericht des Jahres 2021 abgestimmt wird, wollen die Anleger auch über die Vorstandsvergütung des Jahres 2021 befinden – im Lichte der Ertragsentwicklung und Zielerreichung 2021“, erklärt Kramarsch. „Leider verhindert die Sicht der Wirtschaftsprüfer diese periodengerechte Transparenz.“

Die Prüfer legten das neue Gesetz so aus, dass im Bericht über das Jahr 2021 die Vorstandsgehälter des Turnus 2020 gezeigt werden müssten. „Die Investoren können sich somit kein Urteil über Pay-for-Performance bilden“, sagt Kramarsch. Die Unternehmen hätten Stand heute „die Wahl zwischen einem vom Wirtschaftsprüfer getesteten Vergütungsbericht und einer Klatsche auf der Hauptversammlung oder einer Zustimmung der Aktionäre auf Kosten eines eingeschränkten Prüfungsvermerks.“

„Dabei hat der Prüfer laut Gesetz nur eine formelle Prüfungspflicht, checkt also, ob alle Informationen vorhanden sind. Er hat aber keine materielle Prüfpflicht“, erklärt Siepmann. Viele Unternehmen gingen allerdings darüber hinaus und verlangten freiwillig eine weitergehende, auch inhaltliche Prüfung des Vergütungsberichts – aus Sicht der Berater mit erheblichen Konsequenzen: „Die Unternehmen laufen ins offene Messer auf der Hauptversammlung 2022, wie die gerade veröffentlichte Abstimmungsrichtlinie von Glass Lewis zeigt“, warnt Kramarsch.

Pochen auf Best Practice

Der Stimmrechtsberater Glass Lewis äußert in seinen „2022 Policy Guidelines“ für Deutschland explizit die Erwartung, dass die Unternehmen in ihren Vergütungsberichten unverändert auch die alten Kodex-Tabellen veröffentlichen. Zudem weist Glass Lewis darauf hin, dass es mit Blick auf die internationale Best Practice angeraten ist, im Geschäftsjahr erdiente Vergütungsbestandteile auch diesem Turnus zuzurechnen, selbst wenn das Geld erst nach dem Stichtag überwiesen wird.

Siepmann erläutert, dass mit der neuen Definition der „gewährten“ Vergütung der Gehaltszufluss erst erfasst wird, wenn er auch faktisch ausbezahlt wird. Somit würde der durch Zielerreichung 2021 erworbene Einjahresbonus ein Jahr verzögert ausgewiesen. Im Vergütungsbericht 2021 würden die Unternehmen folglich die Gehälter zeigen, die in der alten Systematik schon 2020 verdient wurden. Aus Sicht von Kramarsch ein „Blindflug“, der in aller Regel genau so die Aufsichtsratsvergütung betreffe, weil diese meist auch erst im Folgeturnus rechtlich fällig werde.

Nach Darstellung der Unternehmensberater kann der noch nicht ausbezahlte Bonus aus Sicht mancher Prüfer nicht unter der neuen Rubrik „geschuldete“ Vergütung periodengerecht gezeigt werden. „Der Gesetzgeber definiert hier eine Zahlung als geschuldet, die fällig ist, aber noch nicht geleistet wurde. Man hätte also etwas überweisen müssen, es aber noch nicht getan.“ Ein solcher Verzug sei aber im Rahmen der Vorstandsvergütung ein sehr unwahrscheinliches Szenario, sagt Siepmann. „Warum man den Jahresbonus zum Jahresende nicht als ge­schuldet qualifizieren kann, er­schließt sich nicht.“

Die in der Vergangenheit genutzten Sachverhalte „gewährt“ und „zugeflossen“ standen für „eingeräumt“ und „realisiert“, ergänzt Kramarsch. Aus „zugeflossen“ sei nun „gewährt und geschuldet“ geworden, im Englischen „awarded or due“. Die Begriffsverwirrung hält Kramarsch indes nicht für das größte Problem. Kopfzerbrechen bereite den Unternehmen, wie die Wirtschaftsprüfer mit den „Winkelschlüssen“ umgingen. Viele Prüfer würden die neuen Regularien durchaus gerne praxisnah definieren, doch nicht alle Vertreter der Zunft sehen das so. Vor allem PwC soll hier eine harte Linie fahren. „Damit sind die Unternehmen absolut im Limbo“, sagt Kramarsch.

Wenn es dabei bliebe, würden sich deutsche Unternehmen nach Meinung von Kramarsch aus der Position einer bislang weltweit „vorbildlichen Vergütungstransparenz“ global ins Abseits manövrieren. „Diesen Irrweg hat kein anderes Land beschritten. Dass die Transparenzbemühungen des Arug II zu einem solchen Rückschritt führen, hat der Gesetzgeber ganz sicher nicht gewollt“, sagt Kramarsch. Verursacher der Fehlentwicklung seien diejenigen, die für die unklaren Formulierungen in den Begleittexten zum Gesetz verantwortlich seien. Auch im Handelsgesetzbuch (HGB) sei „gewährte“ Vergütung bislang als im Geschäftsjahr gewährt verstanden worden.

Die Unternehmen mit Stichtag 30. September, die bereits Vergütungsberichte nach den neuen Vorgaben erstellen mussten, sind pragmatisch vorgegangen – und den Investoren entgegengekommen. Thyssenkrupp weist zwar nach der neuen Systematik „gewährt und geschuldet“ keine einjährige variable Vergütung aus. Der Industriekonzern veröffentlicht aber in guter Tradition die bekannte Kodex-Tabelle und zeigt darin den Vergütungszufluss einschließlich der erdienten Kurzfristboni. Abschlussprüfer ist PwC.

Die Differenz ist durchaus signifikant. So wird für die Konzernchefin Martina Merz im neuen Rechtsrahmen eine Gesamtvergütung von 2,4 Mill. Euro genannt. Darin enthalten sind 500000 Euro einmalige Sondervergütung, die den Vorständen schon im vorvergangenen Geschäftsjahr 2019/2020 für besondere Leistungen gewährt und damals in dem Turnus auch schon in der Vergütungstabelle ausgewiesen wurde. Der Betrag wurde aber auch erst nach dem Stichtag überwiesen, deshalb taucht er jetzt erneut auf. In der Kodex-Zuflusstabelle weist Thyssenkrupp dagegen nur die dem Ge­schäftsjahr 2020/2021 zurechenbaren Komponenten aus. Einschließlich der einjährigen variablen Vergütung hat CEO Merz in der Darstellung ein Salär von 3,6 Mill. Euro erhalten.

Präzedenzfälle?

In einer anderen Darstellungsform versuchen Siemens und Siemens Healthineers die Anforderungen der Investoren zu erfüllen. Beide Konzerne, testiert von EY, verzichten zwar auf die alten Kodex-Tabellen, weisen den Kurzfristbonus aber als „geschuldete“ Vergütung aus, auch wenn er erst Anfang 2022, also nach dem Stichtag 30. September 2021, ausgezahlt wird. Dies ermögliche eine transparente und verständliche Berichterstattung und stelle die Verbindung zwischen Unternehmensperformance und Vergütung im Berichtszeitraum sicher, heißt es in den Berichten beider Konzerne. Fraglich bleibt, ob das Vorgehen von Siemens und Thyssenkrupp als Präzedenzfall herangezogen werden kann.

„Unbefriedigender Zustand“

Die Sichtweise der Prüfer ist noch nicht in Stein gemeißelt. Das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) will das Thema am 14. Dezember in einem Stakeholder-Treffen diskutieren. Die Erörterungen in den Fachgremien seien noch nicht abgeschlossen, heißt es vom IDW. Nach derzeitigem Stand vertrete der Prüferverband die vorläufige Auffassung, „dass ein Vergütungsbestandteil in dem Vergütungsbericht für dasjenige Geschäftsjahr als ‚geschuldet‘ anzugeben ist, in dem nicht nur die Vergütungsschuld zivilrechtlich entstanden ist, sondern diese Schuld darüber hinaus auch fällig geworden ist, das Organmitglied die Erfüllung der Schuld also auch berechtigterweise fordern kann“, teilt das IDW auf Anfrage mit.

In diesem Verständnis von §162 Aktiengesetz, der den Vergütungsbericht regelt, berufen sich die Prüfer auf die Materialien zum Arug II sowie auf die englischsprachige Fassung der EU-Aktionärsrechterichtlinie, die mit dem ArugII umgesetzt wurde. „Eine abweichende Periodisierung der Vergütung nach Maßgabe der wirtschaftlichen Verursachung der Zahlung an die Organmitglieder mag betriebswirtschaftlich als sinnvoller zu erachten sein, lässt sich indessen unseres Erachtens aus den Gesetzesmaterialien zum Arug II nicht rechtfertigen. Dieser unbefriedigende Zustand sollte durch den Gesetzgeber überwunden werden“, resümiert das IDW.

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