Corporate Governance

Die virtuelle Hauptversammlung bleibt – aber neu!

Dem Referentenentwurf zur Online-Hauptversammlung gelingt im Großen und Ganzen der Ausgleich der Interessen von Unternehmen und Aktionären. Nachschärfungsbedarf besteht jedoch in Detailfragen.

Die virtuelle Hauptversammlung bleibt – aber neu!

Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) hat den mit Spannung erwarteten Referentenentwurf eines Gesetzes zur pandemieunabhängigen, dauerhaften Einführung einer virtuellen Hauptversammlung (HV) veröffentlicht. Wenngleich das BMJ der „pandemiebedingten Sonderregelung“ (COVMG) explizit die Vorbildfunktion für eine Dauerregelung abspricht, baut das Konzept des Referentenentwurfs jedenfalls materiell auf dem bisherigen Rechtsrahmen auf, greift die positiven Erfahrungen und Best Practices der HV-Saisons 2020/21 auf und schreibt diese zur Stärkung der Aktionärsrechte zukunftsweisend fort: Statt des bisherigen Fragerechts ist nun das Auskunftsrecht vorgesehen; wird dieses durch eine Fragemöglichkeit ins Vorfeld verlagert, muss die Möglichkeit zur Nachfrage in der HV bestehen. Geschäftsordnungsanträge sollen nun in der HV gestellt werden können. Der Vorstandsbericht ist vor der HV zu veröffentlichen.

Aktionäre haben sowohl vor als auch in der HV die Möglichkeit zur Stellungnahme, während der Versammlung soll die Möglichkeit zum direkten Austausch mit dem Vorstand bestehen. Eine Pflicht zur elektronischen Teilnahme ist indes zu Recht nicht vorgesehen, vielmehr genügt die Möglichkeit, mittels elektronischer Briefwahl abzustimmen.

Drei Aspekte prägend

Drei Aspekte sind prägend: (1) Die elektronische Rechtsausübung ist auf alle Mitgliedschaftsrechte erstreckt, aber nur ausnahmsweise zwingend mittels Zwei-Wege-Direktverbindung. (2) Die weitgehende Verlagerung der Entscheidungsprozesse in das Vorfeld der HV wird anerkannt und mit einer Verbesserung der Vorab-Informationsbasis der Aktionäre unterlegt. (3) Durch diese Vorverlagerung bietet sich die Möglichkeit, den HV-Tag selbst auf die Diskussion strategisch bedeutsamer Themen zu konzentrieren und attraktiver zu gestalten.

Die Entscheidung, ob eine HV virtuell abgehalten wird, weist der Entwurf der HV zu. Diese kann die virtuelle Durchführung der HV entweder selbst in der Satzung festschreiben oder den Vorstand ermächtigen, eine Versammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre abzuhalten – die Festlegung ist in jedem Fall auf höchstens fünf Jahre befristet. Die HV-Zuständigkeit überrascht, denn der Entwurf will das „Niveau der Ausübung der Rechte durch die Aktionäre dem der Präsenzveranstaltung“ angleichen; die virtuelle HV sei keine „Versammlung zweiter Klasse“. Es geht also nur um die Art und Weise der Versammlung, und die Entscheidung hierüber liegt nach dem aktienrechtlichen Kompetenzgefüge an sich beim Vorstand.

Bleibt es bei der HV-Zuordnung sollte der Gesetzgeber jedenfalls – wie bei § 120a Abs. 1 Satz 3 Aktiengesetz – vorsehen, den HV-Beschluss über die virtuelle HV-Abhaltung oder eine entsprechende Vorstandsermächtigung unanfechtbar zu stellen. Andernfalls droht bei Anfechtungsklagen eine womöglich mehrjährige, unzumutbare Rechtsunsicherheit, ob die in virtuellen Versammlungen getroffenen Beschlüsse wirksam zustande gekommen sind.

Zur Stärkung der Vorabinformation und zur Unterstützung der Aktionäre, auf informierter Basis Fragen an den Vorstand zu stellen, muss die Gesellschaft spätestens am siebten Tag vor der HV den Vorstandsbericht (also in der Regel die „CEO-Rede“) veröffentlichen. Dabei genügt es nach dem Entwurf richtigerweise, nur den wesentlichen Inhalt des Berichts offenzulegen. Denn damit wird einerseits dem Informationsinteresse der Aktionäre genügt, anderseits bleibt dem Vorstand die Möglichkeit, in freier Rede bestimmte Eckpunkte weiter zu detaillieren und erforderliche Aktualisierungen vorzunehmen. Die Form der Vorab-Offenlegung ist nicht vorgegeben und kann daher in einem Dokument, aber zum Beispiel auch in einem Video-Interview bestehen.

Anstelle der digitalen Generaldebatte in der HV soll der Vorstand vorgeben können, dass Aktionärsfragen spätestens vier Tage vor der HV einzureichen sind. Die Verkürzung der ursprünglich für die HV-Saison 2020 gesetzlich geregelten Frist von zwei Tagen auf nur einen Tag für die Saisons 2021/22 hat sich in der Tat nicht bewährt. Da zum einen die Frist zur Vorab-Veröffentlichung des Vorstandsberichts nicht weiter vorgezogen werden sollte, zum anderen aber zwei Tage, die gegebenenfalls vollständig das Wochenende ausmachen können, für seine Analyse relativ knapp sind, sollte der Gesetzgeber hier eher eine Frist von drei Tagen vorsehen. Parallel zum Fristende für die Frageneinreichung soll auch die Möglichkeit enden, elektronisch Stellungnahmen zu übermitteln – bislang schon Best Practice.

Bislang keine Praxis dagegen ist der BMJ-Vorschlag, alle Aktionärsfragen vor der HV zu veröffentlichen. Dabei ist bislang noch ungeregelt, ob dies jeweils unverzüglich nach jeweiligem Zugang zu erfolgen hat. Die Gesellschaften haben allerdings ein Eigeninteresse an einer zügigen Transparenzherstellung, damit andere Aktionäre gegebenenfalls vor Einreichung eigener Fragen mit Blick auf die bereits eingereichten Fragen hiervon absehen.

Der Gesetzgeber sollte diese unterstützenswerte Vorverlagerung des Dialogs konsequent und fristenharmonisiert weiterführen und einen stärkeren Anreiz zur Nutzung von Q&A-Katalogen im Vorfeld der HV (gleich welcher Form) dadurch setzen, dass die Frist für das damit einhergehende Auskunftsverweigerungsrecht (§ 131 Abs. 3 Nr. 7 Aktiengesetz) von acht auf drei Tage vor der HV verkürzt wird.

Anwesenheit erforderlich

Am Versammlungstag selbst müssen Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder, die Versammlungsleitung und der Notar vor Ort sein. Gerade mit Blick auf allseits geforderte international besetzte Aufsichtsräte stellt das physische Anwesenheitserfordernis aller Organmitglieder eine unnötige Formalität dar. Der Entwurf betont das Thema Nachhaltigkeit – schon deshalb sollte zur Vermeidung von Reiseaktivität die virtuelle Anwesenheit der Aufsichtsratsmitglieder genügen.

Bei Zulassung von Fragen nur vor der HV haben sodann die Aktionäre das Recht, in der HV Nachfragen im sachlichen Zusammenhang mit den eingereichten Fragen und in der von der Gesellschaft festgelegten Form zu stellen. Diese Nachfragemöglichkeit sollte auf den jeweiligen Fragensteller selbst begrenzt werden, um die organisatorische Handhabbarkeit des virtuellen Aktionärstreffens zu erleichtern.

Die wohl weitestgehende Neuerung ist eine Redemöglichkeit der Aktionäre mittels Videokommunikation in der HV. Aktionäre müssen sich dazu vorab anmelden. Die Anzahl von Redebeiträgen kann von den Emittenten beschränkt werden. Allein die zeitliche Reihenfolge des Anmeldungseingangs soll dann bei Nachfrageüberhang über die Zulassung entscheiden. Hier sollte der Gesetzgeber dem Versammlungsleiter mehr Flexibilität einräumen, um Windhundrennen zu vermeiden und eine Pluralität der Themen sowie Repräsentativität der Sichtweisen erreichen zu können. So wird es in der Regel plausibel sein, unabhängig vom zeitlichen Eingang die Rede von bedeutsam beteiligten Aktionären und von breit verankerten Aktionärsvereinigungen zuzulassen.

Ausgleich von Interessen

Der Entwurf sieht weiter vor, dass Aktionäre – im Gegensatz zu Gegenanträgen und Wahlvorschlägen – Anträge zur Geschäftsordnung oder Abwahl des Versammlungsleiters in der HV stellen können. Der Kreis alternativer Versammlungsleiter ist indes auf die am Versammlungsort wenigen Anwesenden beschränkt.

Mit Blick auf Nichtigkeitsgründe und Anfechtungsmöglichkeiten entwickelt der Entwurf das bisherige Sonderregime vorsichtig fort. Technische Störungen können im Grundsatz die Anfechtbarkeit nicht begründen. Wird ein HV-Dienstleister tätig, soll dies das Verschulden ausschließen können. Anfechtungsbefugt sollen auch zugeschaltete Aktionäre sein, die ihr Stimmrecht nicht ausüben.

Dem Referentenentwurf gelingt im Großen und Ganzen der Ausgleich vom Unternehmensinteresse an einer praktikablen und rechtssicheren virtuellen HV mit dem Aktionärsinteresse an weitgehenden Rechten gut. Nachschärfungsbedarf besteht nur bei Detailfragen. Zu bedauern ist, dass der Entwurf nicht zugleich und parallel die Präsenz-HV  modernisiert, etwa durch die Regelung einer Option, Fragen auch hier vorab übermitteln zu müssen (mit Nachfragemöglichkeit in der HV), den Ausbau des Auskunftsverweigerungsrechts bei Vorab-Information (Q&A-Katalog) oder die Aufhebung der Präsenzpflicht von Aufsichtsratsmitgliedern.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.