GASTBEITRAG

Die virtuelle Hauptversammlung hat Zukunft!

Börsen-Zeitung, 13.10.2020 Was zu Jahresbeginn trotz einiger Vordenker-Konzepte noch kein Thema war, hat die Saison der Aktionärstreffen 2020 geprägt: die virtuelle Hauptversammlung. Ausnahmslos alle deutschen Dax-, MDax- und TecDax-Unternehmen...

Die virtuelle Hauptversammlung hat Zukunft!

Was zu Jahresbeginn trotz einiger Vordenker-Konzepte noch kein Thema war, hat die Saison der Aktionärstreffen 2020 geprägt: die virtuelle Hauptversammlung. Ausnahmslos alle deutschen Dax-, MDax- und TecDax-Unternehmen haben ihre ab April 2020 abgehaltenen Hauptversammlungen ohne physische Präsenz ihrer Aktionäre einberufen, insgesamt waren es bis jetzt 326 Börsenunternehmen. Auf Grundlage dieses Erfahrungsschatzes sollte die Konzeption der Eigentümerversammlung neu gedacht werden. Die Zukunft der Hauptversammlung liegt im virtuellen Raum und in der Aufgabe des bisherigen “Alles an einem Tag”-Konzepts zugunsten einer Vorverlagerung von Information und Debatte.Die (erste) virtuelle Hauptversammlungssaison zeigte viel Licht, aber auch verpasste Chancen. Dies schmerzt mit Blick auf die zahlenmäßig teils beeindruckende Aktionärsteilhabe besonders. Hybridversammlungen, bei denen sich Aktionäre physisch versammeln, aber auch über das Internet zuschalten konnten, gab es nur bei Gesellschaften mit kleinem Aktionariat. Die Bild- und Tonübertragungen der Versammlungen über das Internet verliefen technisch einwandfrei. Was die Aktionäre wahrnahmen, war in der Regel jedoch schlicht die Liveübertragung einer Präsenzveranstaltung im Einweg- und Social-Distancing-Format, gelegentlich aufgelockert durch Bildschnitte oder Präsentationsseiten, die parallel zum Redenden eingeblendet wurden.Positiv war, dass regelmäßig alle Aktionärsfragen beantwortet wurden (und dennoch waren die virtuellen Treffen im Durchschnitt 20 % kürzer). Auch weil es keine “Fragenflut” gab, machten die Emittenten von den möglichen Antwortbegrenzungen praktisch keinen Gebrauch. Fragen wurden aber nicht interaktiv beantwortet; stundenlang wurden klinisch-nüchtern Antwortmanuskripte vorgelesen. Dabei hat die Transparenz und Qualität der Antworten durch die durchgehend gewählte Möglichkeit, Fragen nur bis zu zwei Tage vor der Versammlung einreichen zu können, durchweg gewonnen.Ohne technische Probleme konnten Aktionäre ihre Stimmen abgeben und wussten ihre Rechte zu nutzen. So wurden bei den Wahlen zum Aufsichtsrat vielfach “nur” 80 % Ja-Stimmen abgegeben, aber auch Vergütungssysteme erhielten teilweise eine beachtliche Zahl von Nein-Stimmen: ein sich aus den Vorjahren fortsetzender Trend (“80 ist das neue 100”).Die Stimmabgabe erfolgte nicht im Wege elektronischer Teilnahme, die auch nach ihrem zehnjährigen Jubiläum faktisch keine Rolle spielt. Abgestimmt wurde zulässigerweise auch über bedeutende Strukturmaßnahmen (etwa Abspaltung Siemens Energy, Squeeze-out Stada). Mehr als die Hälfte der Börsenunternehmen wies in der Einberufung darauf hin, veröffentlichungspflichtige Aktionärsanträge zur Abstimmung zu stellen (Fiktionslösung); nur rund ein Viertel schloss dies hingegen explizit aus. Mit der verkürzten Einberufungsfrist wurde knapp ein Drittel aller Versammlungen angesetzt. Auch die elektronische Widerspruchsmöglichkeit wurde genutzt – hier gab es eine deutliche Zunahme im Vergleich zu den Vorjahrespräsenzversammlungen. Best PracticeMit Blick auf den fortschreitend-dynamischen Pandemieverlauf ist eine Verlängerung der gesetzlichen Regelung zur virtuellen Hauptversammlung geboten! Gleichwohl bleibt die Entscheidung zur Durchführung einer virtuellen Versammlung im pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltung unter Berücksichtigung der (vor allem im 2. Halbjahr 2021) dann aktuellen Bedingungen. Für die Entwicklung einer Best Practice 2021 sind Lehren aus der Erstsaison zu ziehen:Allen voran sollte die Praxis der Fragenbeantwortung aktionärsfreundlicher und lebendiger gestaltet werden, Anregungen aus den multi-channel ausgerichteten Kommunikationsabteilungen sollte mehr gefolgt werden. Langfristig kann hier die Attraktivitätssteigerung auf die Unternehmensreputation ausstrahlen. Eine Moderation (etwa Deutsche Bank) kann die bisher starre Fragenbeantwortung zu einer Interviewsituation fortentwickeln.Im Grundsatz sollten auch weiterhin alle Fragen beantwortet werden, solche zu ähnlichen Lebenssachverhalten zusammengefasst, thematisch geordnet, mit Grafiken unterstützt und mit einer vorangestellten Agenda mit Zeitangaben beantwortet werden. Hier kann der schon bei der Vorstandsrede eingesetzte zweite Webcast optische Unterstützung leisten. Die Möglichkeit, Großinvestoren und Aktionärsvereinigungen bei der Debattenbeteiligung zu bevorzugen, z. B. durch Einspielung von Stellungnahmen (etwa Vonovia) oder bei einer virtuellen Diskussion, sollte geprüft werden.Das Manuskript der Vorstandsrede sollte einige Tage vor der Versammlung veröffentlicht werden, damit Aktionäre diese bei ihren Fragen berücksichtigen können (etwa Deutsche Lufthansa, Deutsche Bank, Merck). Auch ist erwägenswert, Fragestellern eine zeitlich befristete Nachfragemöglichkeit in der Versammlung anzubieten, per Chat, Online-Debattentool oder mündlich. Aus Gleichbehandlungsgründen und zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Versammlung kommt hier eine quantitative Begrenzung der Nachfragen (z. B. drei) in Betracht.Zur Stimmrechtsausübung genügt es, wenn Stimmen allein auf einem elektronischen Weg, etwa durch elektronische Briefwahl, abgegeben werden können. Zudem sollten alle zu veröffentlichenden Gegenanträge und Wahlvorschläge der Aktionäre in der Versammlung zur Abstimmung gestellt werden; eine zeitlich weitergehende Antragszulassung benachteiligte internationale Fonds.Die Option einer rein virtuellen Hauptversammlung ohne physische Aktionärspräsenz sollte ab 1. Januar 2022 dauerhaft Einzug ins Aktienrecht finden. So könnte die internationale Aktionärspräsenz und damit die Attraktivität deutscher Börsenunternehmen nachhaltig gesteigert werden. Das Covid-19-Krisengesetz kann indes weder technisch noch inhaltlich eins zu eins als Vorlage dienen. Die Hybridversammlung ist schon wegen des deutlichen Mehraufwands gegenüber einem rein analogen oder virtuellen Format kein Zukunftsmodell.Die Entscheidung, eine Versammlung mit oder ohne physische Aktionärspräsenz einzuberufen, sollte gemeinsam von Vorstand und Aufsichtsrat – auf der Basis einer noch zu schaffenden Satzungsermächtigung – getroffen werden können. Die virtuelle Hauptversammlung der Zukunft muss die Wahrnehmung der Aktionärsrechte auf vergleichbarem Niveau ermöglichen wie eine Präsenzversammlung. Dafür ist keine elektronische Teilnahme erforderlich. Denn das Teilnahmerecht verfolgt keinen Selbstzweck, sondern soll die Ausübbarkeit der Aktionärsrechte in der Versammlung (z. B. durch Stimmabgabe im Wege elektronischer Briefwahl) sicherstellen.Das Auskunftsrecht der Aktionäre sollte nicht nur auf das Vorfeld der Versammlung erweitert, sondern weitgehend – parallel zur Willensbildung – dorthin verlagert werden. Die Möglichkeit zur Übermittlung von Fragen sollte am zweiten Tag vor der Versammlung enden, um die jetzt erreichte erhöhte Qualität der Fragenbeantwortung zu erhalten. Der Vorstand ist zur Antwort zu verpflichten. Nachfragen sollten unmittelbar nach der Vorstandsrede möglich sein, aber zeitlich und umfangmäßig angemessen beschränkt werden können. Das erstmalige Stellen von Fragen in der Versammlung sollte erst nach Abarbeitung der vorab gestellten Fragen möglich sein. ReputationsförderndErwägenswert ist es, die Debatte mittels eines Online-Forums aus der Versammlung heraus in deren Vorfeld zu überführen. Aktionäre sollten Stellungnahmen und gegebenenfalls bestimmte Anträge vor und während der Hauptversammlung abgeben beziehungsweise stellen können, technisch zum Beispiel über das Portal. Die Anfechtungsmöglichkeit sollte über die aufrecht zu erhaltenden Einschränkungen bei technischen Störungen nicht weiter begrenzt werden.Es bleibt festzuhalten: Die virtuelle Hauptversammlung war in 2020 gut, 2021 sollte sie noch besser und ab 2022 vergleichbar mit Präsenztreffen interaktiv werden. Sie muss keine (leidige) Pflicht sein, sondern sollte sich in eine reputationsfördernde Marken- und übergreifende Kommunikationsstrategie des Unternehmens einfügen. Christoph H. Seibt, Partner von Freshfields Bruckhaus Deringer und Christopher Danwerth, Associate bei Freshfields Bruckhaus Deringer