IM GESPRÄCH: MARTIN KLUSMANN, FRESHFIELDS BRUCKHAUS DERINGER

"Es wird viel tiefer gegraben"

Der Wettbewerbsexperte über langwierige Verfahren der Fusionskontrolle und Umweltziele im Kartellrecht

"Es wird viel tiefer gegraben"

Von Detlef Fechtner, FrankfurtUnternehmen müssen bei größeren Fusionsvorhaben mit aufwendigeren Genehmigungsverfahren rechnen, deren Ausgang zudem schwerer vorhersagbar ist als in der Vergangenheit. Diese Einschätzung vertritt Martin Klusmann, Partner im Kartellrecht bei Freshfields Bruckhaus Deringer, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. “Fusionskontrollverfahren mit Beteiligung strategischer Investoren werden tendenziell immer komplexer und langwieriger”, erklärt der Wettbewerbsexperte mit Verweis auf eine aktuelle Freshfields-Studie. Regelrechte MaterialschlachtWenn die EU-Kommission mehrere Monate mit einem teilweise zehnköpfigen Team ein Fusionsvorhaben durchleuchte, drohten lange Auskunftsersuchen, Verzögerungen und manchmal gar eine Hängepartie durch angehaltene Prüfungsfristen. “Einige Verfahren haben inzwischen den Charakter einer regelrechten Materialschlacht”, berichtet Klusmann. Aus Sicht der beteiligten Firmen bedeute dies einen großen Aufwand der Verfahrensführung, eine abnehmende Planbarkeit des Verfahrensverlaufs und eine sinkende Vorhersagbarkeit des Ergebnisses. Die Transaktionssicherheit leide.Der Ausgang von Fusionskontrollverfahren sei ohnehin im Zuge eines veränderten Prüfansatzes schwerer voraussagbar geworden. “Die Wettbewerbsbehörden haben im Rahmen der materiellen Prüfungskriterien der Fusionskontrolle weitgehend Abschied genommen von einer transparenten, aber eher statischen Prüfung von Marktanteilsadditionen”, erläutert Klusmann. Mit ihrem “more economic approach” versuche die EU-Kommission, die dynamische Situation und voraussichtliche Entwicklung von unterschiedlichen Märkten in ihrer Beurteilung individueller zu berücksichtigen. Dem liege aber trotz umfangreicher Bekanntmachungen kein klarer Kriterienkatalog mehr zugrunde, sodass Prüfungsverläufe und -ergebnisse ungewisser seien als früher. “Das gilt vor allem auch mit Blick auf Zusagen, von denen die EU-Kommission oft eine Fusionsgenehmigung abhängig macht”, unterstreicht der Experte. Regelmäßig fordert die EU-Behörde bei aus ihrer Sicht problematischen Zusammenschlüssen als Zusage, dass voll funktionsfähige Geschäftseinheiten an Wettbewerber verkauft werden. “Dies kann zu Abgabeverpflichtungen führen, die letztlich viel umfangreicher sind als im Ausgangspunkt die beanstandeten wettbewerblichen Überschneidungen.” Hunderttausende UnterlagenWie Klusmann beschreibt, geht der Trend dahin, dass Fusionskontrollbehörden eine geringere Anzahl von Fällen vertieft prüfen, aber im Falle einer Phase-II-Untersuchung mit größerem Aufwand als in der Vergangenheit: “Es wird viel tiefer gegraben und oft jeder Stein umgedreht.” Mitunter würden Hunderttausende von Unternehmensunterlagen mittels E-Search durchsucht.In Zukunft könnte es sein, dass auch Zusammenschlüsse von Firmen mit durchaus überschaubaren Umsätzen in Brüssel landen. Im Frühjahr wolle die EU-Kommission eine Mitteilung zu einer neuen Verweisungspraxis im Rahmen der “holländischen Klausel” veröffentlichen. Die Klausel war ursprünglich für EU-Länder ohne eigene Fusionskontrolle gedacht. Dabei geht es um das mögliche Aufgreifen von Fusionsvorhaben durch die EU-Kommission auf Antrag eines Mitgliedstaats, auch wenn die Umsatzschwellenwerte für die Fusionskontrolle nicht erreicht werden. Die Klausel ermöglicht es insofern der Brüsseler Behörde, die Kontrolle von Fusionsvorhaben von Unternehmen an sich zu ziehen, die zwar noch keine großen Umsätze erwirtschaften, die aber trotzdem Marktbedeutung haben. Insofern könnte die Klausel künftig zum Beispiel dazu genutzt werden, sogenannte “killer acquisitions” oder “start-up acquisitions” zu kontrollieren. “Das bringt aus Sicht der Firmen zusätzliche Unsicherheiten, denn es gibt dann ex ante keine verlässliche Grundlage mehr für die Prüfung, ob ein entsprechendes EU-Fusionskontrollverfahren zu durchlaufen ist oder nicht”, stellt Klusmann klar.Er beobachtet, dass Wettbewerbsbehörden in zunehmendem Maße auch Ziele jenseits des traditionellen Kartellrechts verfolgen, etwa Umwelt- oder Nachhaltigkeitsziele. So interessierten sich die EU-Kartellwächter in der Fusionskontrolle in steigendem Umfang dafür, ob die bisherigen Kapazitäten für Forschung und Entwicklung bei Zusammenschlüssen aufrechterhalten bleiben, weil Synergien in diesem Bereich zu unerwünschten Einschränkungen des Innovationswettbewerbs führen können. Auch in Kartellfällen oder Fällen von Marktmachtmissbrauch würden zunehmend nicht nur preisrelevante Verhaltensweisen thematisiert, sondern neuerdings auch die mögliche Umweltschädlichkeit von Absprachen. Weniger KronzeugenMit Blick auf die Kartellverfahren falle noch ein weiterer Trend auf: “Die Anzahl von Kronzeugenmeldungen ist in den letzten Jahren stark rückläufig gewesen”, berichtet der Freshfields-Partner. Das könnte zum einen damit zusammenhängen, dass es tatsächlich weniger Verstöße gebe, weil Unternehmen ihre Beschäftigten umfassender schulen und stärker als früher kontrollieren, so dass Regeln besser eingehalten werden. Der Rückgang der Selbstanzeigen dürfte aber auch damit zu tun haben, dass in Europa inzwischen regelmäßig auch die zivilrechtlichen Folgen von behördlich festgestellten Kartellverstößen sehr gravierend seien. “Schadenersatzforderungen betroffener Kunden übertreffen unabhängig von ihrer Berechtigung inzwischen oft die Geldbußen der Kartellbehörden – und sie treffen auch und gerade Kronzeugen, die einen Verstoß eingeräumt haben”, berichtet Klusmann.