EU-Kommission erwägt neues Kronzeugenprogramm
– Herr Dr. Steger, die EU-Kommission hat angekündigt, das Kronzeugenprogramm für Kartellsünder zu überdenken. Worum geht es?Die Kommission denkt derzeit über Änderungen des bestehenden Kronzeugenprogramms nach. Es geht vor allem darum, ein sogenanntes zweiseitiges Whistleblower-Tool einzuführen.- Was verbirgt sich dahinter?Bisher ist es so, dass ein Unternehmen sich selbst als Kronzeuge zur Verfügung stellen kann, um Kartellabsprachen aufzudecken. Im Idealfall geht der Kronzeuge dann bußgeldfrei aus. Aber auch sonstige Informanten können der Behörde Hinweise auf Kartellabsprachen liefern und hierbei anonym bleiben. Genau hier setzen die derzeitigen Überlegungen an. Bei anonymen Hinweisen ist ein Kontakt zum Hinweisgeber bislang nicht möglich. Ein zweiseitiges Whistleblowersystem würde dies jedoch ermöglichen, ohne hierbei die Identität des Informanten preiszugeben.- Wieso sollte die Behörde beim Tippgeber nachfragen?Es gibt häufig Hinweise, die nicht ausreichen, um ein Ermittlungsverfahren zu rechtfertigen. Könnte die Kommission in einem solchen Fall beim Hinweisgeber nachfragen, ob die Angaben weiter präzisiert werden können, und würde der Hinweisgeber daraufhin weitere Informationen (zum Beispiel Dokumente) liefern, die in den Augen der Kommission den Schluss auf möglicherweise kartellrechtswidriges Verhalten zulassen, dann kann sie ein Ermittlungsverfahren beginnen.- Was ist der Vorteil der Anonymität?Hinweisgeber sind häufig weit oben im betroffenen Unternehmen und/oder Verband angesiedelt. Sie befürchten nach Bekanntwerden ihrer Identität Repressalien. Auch ehemalige Arbeitnehmer des Unternehmens bleiben gerne anonym. Dasselbe gilt für Geschäftspartner der Kartelltäter, wie zum Beispiel Händler oder Zulieferer. Denn es muss sich nicht nur um klassische Preisabsprachen handeln. Es können genauso Hinweise sein, die belegen, dass Hersteller ihre Händler beispielsweise auffordern, ein bestimmtes Preisniveau beim Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen einzuhalten, um “nichts zu verramschen”.- Wie funktioniert dies technisch?Technisch wird die gesamte Kommunikation über eine gesicherte Internetseite abgewickelt. Der Tippgeber richtet sich einen Zugang ein und liefert Hinweise. Bei Rückfragen stellt die Behörde ihre Fragen in das System ein und der Tippgeber erhält sie. Hierauf kann er wiederum über das System antworten. Ein solches Angebot wird von einem Drittanbieter verwaltet, der die Anonymität des Tippgebers garantiert. Es handelt sich letztlich um eine “Kommunikationsplattform”.- Nutzen andere Behörden so etwas auch?Das Bundeskartellamt nutzt ein solches System bereits seit Ende 2012. Die Dänen setzen es ebenfalls ein. Das Bundeskartellamt hat erst kürzlich ein Kartellverfahren in der Automobilbranche mit hohen Bußgeldern abgeschlossen. Es war das erste Verfahren, das auf dem Hinweisgebersystem basierte.- Welche Branche ist betroffen, und was heißt dies?In nahezu allen Branchen gibt es kartellrechtliches Fehlverhalten unterschiedlicher Intensität. Kartellrecht ist geradezu allgegenwärtig. Für Unternehmen wird die Luft noch dünner, wenn es sich um Sachverhalte handelt, für die die Kommission zuständig ist, und das neue System implementiert werden sollte. Denn dann ist es für anonyme Hinweisgeber noch einfacher, im direkten Dialog mit der Behörde diese mit den notwendigen Fakten für ein Kartellverfahren auszustatten.- Was können Unternehmen tun?Das Zauberwort lautet: Compliance. Unternehmen müssen ihre bestehenden kartellrechtlichen Compliancestrukturen überprüfen, um festzustellen, ob es Schwachstellen im Unternehmen gibt, die behoben werden können, um ein Bußgeldrisiko auszuschließen. Eine solche Überprüfung kann sehr gezielt erfolgen und muss nicht aufwendig sein. Für den Fall aller Fälle kann sie dem Unternehmen einen immensen wirtschaftlichen Vorteil bieten. Steht die Behörde erst mal vor der Tür, bedeutet dies einen sehr großen zeitlichen Druck für das Unternehmen, verbunden mit hohen Verfahrenskosten.—-Dr. Jens Steger ist Rechtsanwalt und Kartellrechtsexperte bei Kaye Scholer in Frankfurt. Die Fragen stellte Walther Becker.