„Für Siemens sind die großen Wachstumstreiber intakt“
Herr Prof. Thomas, die deutsche Wirtschaft schwächelt. Was läuft da schief?
„Schieflaufen“ ist ein Begriff, der sehr wertend ist. Für Siemens sind die großen Wachstumstreiber nach wie vor intakt. Elektrifizierung, Automatisierung, Digitalisierung und die Transformation zu nachhaltigeren Geschäftsmodellen bleiben Wachstumsmotoren.
Also alles in Ordnung?
Natürlich trifft uns die gesamtwirtschaftliche Situation, hinzu kommen die geopolitischen Verwerfungen. Deutschland ist nicht mehr die Lokomotive Europas, die es immer war. Das gibt zu denken.
Sehen Sie ein strukturelles Problem?
Eigentlich ist Europa und damit auch Deutschland bei der Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen in einer guten Startposition. Aber wer am Start gut wegkommt, muss nicht unbedingt das Rennen gewinnen. Wir sollten die Priorität auf die zügige Umsetzung legen. Gute Ideen müssen auch ans Ziel kommen.
Was ist ansonsten zu tun?
Die Liste reicht von einer Beschleunigung der grünen Transformation bis zur Freisetzung von Europas Innovationen. Wichtig ist aber auch: Wir sollten nicht im Tal der Tränen verharren. Es gilt, die Ärmel hochzukrempeln und sich auf die Stärken zu konzentrieren, die die deutsche Volkswirtschaft ohne Frage hat.
Wie hat Siemens im vergangenen Geschäftsjahr abgeschnitten?
Das weiß ich noch nicht im Detail, weil der 30. September noch nicht erreicht ist. Grundsätzlich gilt aber für den Konzern: Die Ertragskraft liegt ganz klar auf dem Niveau, das wir angekündigt haben. Beim Umsatzwachstum geht der Trend nicht in Richtung 4%, sondern in Richtung 3%. Der Free Cashflow in Bezug auf den Umsatz wird erfreulicherweise wohl erneut einen zweistelligen Prozentsatz erreichen, und zwar im fünften Geschäftsjahr in Folge.
Gehört das Auf und Ab des Cashflows der Vergangenheit an?
Wir haben auf jeden Fall mehr Stabilität. Dafür sorgt eine Kombination von verstärktem unternehmerischem Fokus, Incentive-Systemen, Prozessverbesserungen sowie dem Einsatz digitaler Kontroll- und Steuerungssysteme.
Der Cashflow glänzt, zudem spart sich Siemens größere Zukäufe. Denken Sie über eine sehr deutlich erhöhte Dividende 2023/2024 nach?
Es kommt darauf an, was man unter „sehr deutlich“ versteht. Wir werden weiterhin eine progressive Dividendenpolitik verfolgen, also die Ausschüttung voraussichtlich erhöhen. Selbst wenn wir eine Akquisition vornehmen würden, würde das grundsätzlich keinen Einfluss auf unsere Ausschüttungsfähigkeit haben. Der Rückkauf von Aktien läuft zudem sehr zügig. Aber wir möchten auch die Zukunftspotenziale stärken, die sich in der Kursentwicklung widerspiegeln werden.
Dies bedeutet?
Wir wollen weiterhin ein hohes Maß an Vorleistungen erbringen, gerade jetzt in dieser Transformationszeit vieler Kundenindustrien. Beispielsweise bleiben die Forschungs- und Entwicklungsausgaben bei rund 8% des Umsatzes. Gehen Sie außerdem davon aus, dass wir weiterhin sehr interessiert sind, unsere sehr erfolgreiche Strategie des Zukaufs von Softwaregeschäften fortzusetzen.
Die Fabrikautomatisierung leidet unter der Absatzschwäche in China. Wie ist der Stand?
Beeinträchtigt ist nicht nur das Geschäft in China, sondern auch der Export beispielsweise aus Deutschland und Italien und der Absatz in diesen wichtigen Ländern. Die Automatisierung muss sich wirklich strecken, um ihre Ziele zu erreichen. Die erste Hälfte des nächsten Geschäftsjahres wird weiterhin eine große Herausforderung bleiben.
Sind die Lager der Kunden unverändert gefüllt?
Die Lagerhaltung in China bei Distributoren ist von 14½ Wochen Reichweite der Bestände auf ca. elf gesunken. Das normale Niveau liegt eher zwischen sechs und acht Wochen. Diese Größenordnung werden wir rein rechnerisch voraussichtlich nicht vor Februar 2025 erreichen.
Welche Konsequenzen zieht Digital Industries?
Ein wichtiger Punkt ist, den Fokus stärker in Richtung USA zu rücken. Im dortigen Absatzmarkt sind wir nicht so präsent, weil die diskrete Automatisierung – in der wir stark sind – dort keine prominente Rolle spielt. Nun wächst dieses Geschäftsfeld zunehmend mit der industriellen Software zusammen, und daraus ergeben sich Chancen für Siemens. Wir haben für die USA eine Menge guter Ideen.
Denken Sie andernorts auch über Kostensenkungen nach?
Wir sind jetzt gut beraten, verantwortungsvoll zu agieren. Es gibt immer und überall Möglichkeiten, an den Kosten zu arbeiten. Das werden wir mit Augenmaß tun. Aber wir werden keine Radikalkur verordnen, um das Ergebnis für ein paar Quartale auf ein besseres Niveau zu heben.
China startet ein Konjunkturpaket. Wird dies auch Siemens helfen?
Selbst wenn die Anreize greifen sollten, dauert es bis zu einem halben Jahr, bis diese Effekte auch in unseren Kundenindustrien greifen. Die Erfahrung zeigt: Erst das Anziehen von Aufträgen, die sehr schnell umgesetzt werden können, zeigt die Wende an. Dieses Phänomen sehe ich heute noch nicht.
Was ist von dem zweiten Standbein der Sparte Digital Industries zu erwarten, der industriellen Software?
Nach dem fantastischen dritten Quartal wird das vierte Quartal nicht die gleiche Akkumulation von Großaufträgen bringen. Aber das Buch mit möglichen Aufträgen für das nächste Jahr beginnt sich gut zu füllen. Unser Softwaregeschäft hat weiterhin viel Wachstumspotenzial.
Dieses großvolumige Lizenzgeschäft wird durch Abo-Aufträge ergänzt. Wie läuft die Umstellung auf Software as a Service, auch SaaS genannt?
Wir kommen mit dieser Transformation weiterhin sehr gut voran, einige Ziele erreichen wir sogar früher als geplant. Wir wachsen stark bei kleinen und mittleren Unternehmen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir uns weitere ambitionierte Ziele für die nächsten Jahre setzen können. Wir werden im laufenden Geschäftsjahr rund 250 Mill. Euro in dieses Konzept investiert haben.
Wird die Investition 2024/2025 ähnlich groß sein?
Es wäre jetzt zu früh, eine Zahl zu nennen. Tatsache aber ist: Kein anderes Unternehmen hat eine SaaS-Transformation so geräuschlos und nach außen so transparent durchgezogen wie wir. Wir haben einen langen Atem und sind nicht gezwungen, schnell ein höheres Ergebnis zu zeigen, sondern können Volumen und Profitabilität gesamtheitlich maximieren und über einen längeren Zeitraum investieren.
Wann folgt die Ernte?
Ob diese Transformation vier oder fünf Jahre dauern wird, ist zweitrangig. Ich erwarte kontinuierlich Marktanteilsgewinne bei mittelständischen Unternehmen, eine höhere Resilienz aufgrund des Geschäftsmodells und niedrigere Eintrittsschwellen für neue Kunden.
Wie hat Digital Industries im ablaufenden Geschäftsjahr insgesamt abgeschnitten?
Die Guidance für den Umsatz lautet, dass er um 4 bis 8% sinken wird. Nun erwarten wir, dass die Sparte eher am unteren Ende, vielleicht sogar einen Tick unter den -8% landen wird. Digital Industries wird das Margenziel von 18% erreichen.
Was erwarten Sie von der zweiten großen Sparte Smart Infrastructure?
Das Margenziel für das ablaufende Geschäftsjahr beträgt 16 bis 17%. Aus heutiger Sicht gehe ich davon aus, dass Smart Infrastructure am oberen Ende oder vielleicht sogar einen kleinen Tick darüber liegen wird.
Wie sieht es mit dem Umsatz aus?
Die Entwicklung des grandiosen dritten Quartals wird sich wegen der an einigen Stellen eher gedämpften Nachfrage so nicht wiederholen lassen. Aber ich gehe davon aus, dass Smart Infrastructure solide in dem vorgegebenen Korridor für das Umsatzwachstum landen wird.
Wie erklärt sich die stark gestiegene Profitabilität?
Smart Infrastructure ist für mich ein Paradebeispiel dafür, dass eine gut vorbereitete und konsequent umgesetzte Transformation sehr erfolgreich sein kann. Wir sind beispielsweise im Produktgeschäft mit den Electrical Products sehr gut unterwegs – und auch bei den Data Centers.
Sind gut 17% das strukturell neue Margenniveau, so dass die Sparte ihre Ziele auf der Kapitalmarktveranstaltung im Dezember entsprechend erhöhen wird?
Ich werde natürlich auf keinen Fall vorwegnehmen, was meine Smart-Infrastructure-Kollegen rund um Matthias Rebellius und Axel Meier am 12. Dezember sagen werden. Auf jeden Fall ist die Sparte höchst erfolgreich in einem sich auch sehr gut entwickelnden Markt. Ich würde nun nicht sagen, dass der neue Normalwert schon 17% ist, denn das Ergebnis enthält auch einige Sondereffekte. Aber ich wäre mehr als überrascht, wenn das Team nicht über einen ambitionierteren, neuen Margenkorridor nachdenken würde.
Wie ist das Bahntechnik-Geschäft gelaufen?
Mobility ist solide unterwegs, was sich auch in unseren technologisch führenden Angeboten zeigt, die wir gerade auf der InnoTrans in Berlin präsentierten. Das Geschäft hat auf der Umsatzseite Herausforderungen durch Qualitätsthemen von Lieferanten, über die wir schon im dritten Quartal berichtet haben. Die Sparte wird zwar im Schlussquartal prozentual zweistellig wachsen, aber die Rückstände nicht vollständig aufholen können. Auf der Margenseite wird Mobility gut im Ziel-Korridor liegen.
Wie sieht es in der Zukunft aus?
Der Exit aus dem russischen Markt hat eine Lücke hinterlassen, die andere große Aufträge wie zum Beispiel die in Ägypten zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht füllen können. Deshalb wird das Ziel einer Marge in zweistelliger Prozenthöhe kurzfristig nicht erreicht werden können. Was uns aber Freude macht, ist, dass uns offensichtlich der Marktzugang für Hochgeschwindigkeitszüge in den USA gelingt.
Mobility wird aber selbst mit einer Marge von gut 10% weniger profitabel als der übrige Konzern sein.
Das stimmt zwar, allerdings ist die Kapitaleffizienz in diesem Geschäft weiterhin auf sehr hohem Niveau. Unsere Angebote leisten zudem maßgebliche Beiträge rund um das Thema Klima, weshalb die Nachfrage ungebrochen hoch ist. Das Geschäft ist und bleibt attraktiv.
Die Finanzexpertin Veronika Bienert wird am 1. Oktober Siemens-Vorstandsmitglied. Ist sie damit Favoritin für Ihre Nachfolge im Jahr 2026?
Diese Frage müssten Sie eigentlich unserem Aufsichtsratsvorsitzenden Jim Hagemann Snabe stellen. Ich freue mich auf jeden Fall, dass eine Kollegin, die seit über 20 Jahren mit mir zusammenarbeitet, diesen wichtigen Schritt in ihrer eigenen Karriere machen kann. Das ist toll. Sie führt ihren Bereich Siemens Financial Services konsequent und umsichtig auch in schwierigem Fahrwasser. Veronika Bienert kommt zudem selbst aus dem operativen Geschäft und kennt das Unternehmen aus dem Effeff. Ich bin auch stolz darauf, dass sich jemand aus unserem eigenen Talentpool in den Vorstand entwickelt hat. Allen Gesprächen, die ich bisher geführt habe, habe ich entnommen, dass ich meinen Vertrag bis zum Dezember 2026 erfüllen darf. Das ist eine Ehre, und darauf freue ich mich auch.
Rom und Berlin streiten über die Zukunft der Commerzbank. Braucht die deutsche Wirtschaft eine zweite eigenständige deutsche Großbank neben der Deutschen Bank?
Eine sehr, sehr gute Frage, die viele Aspekte hat.
Schießen Sie los.
Die deutsche Wirtschaft hat sehr viele Untergruppierungen. Es gibt Global Players wie Siemens, die – ich übertreibe jetzt maßlos – keine speziell deutsche oder italienische Bank benötigen. Diese globalen Unternehmen brauchen einen breiten Zugang zum Kapitalmarkt. Wir haben beispielsweise rund 50 Bankenpartner weltweit.
Wie sieht es für andere Segmente aus?
Im deutschen Mittelstand leben viele Unternehmen vom Export. Sie wollen deshalb auf der Finanzdienstleistungsseite Partner, die globale Aktivitäten unterstützen können. Es muss für diesen Teil des Marktes Strukturen in einer Volkswirtschaft geben. Dabei spielen sowohl Exportfinanzierung als auch triviale Dinge wie zum Beispiel die Frage der Sprache eine Rolle. Es ist wichtig, dass es jemanden gibt, der dort mit hoher Fachexpertise unterstützen kann.
Hat dies mit den Eigentumsverhältnissen zu tun?
Ich verstehe, dass viele in einem Analogieschluss darauf schauen, wie es der HVB nach der Übernahme durch Unicredit erging. Im Nachgang hat sich dort einiges verändert. Damit geht heutzutage eine gewisse Sorge einher. Nun ist es auch eine Binsenweisheit, dass nicht jede Sorge ein unlösbares Problem ergeben muss. Die handelnden Spieler sind hier aufgefordert, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
Welche Erfahrungen hat Siemens mit der Commerzbank?
Ich selbst halte die Commerzbank für eine gut funktionierende Bank. Sie arbeitet technologieorientiert an digitalen Geschäftsprozessen im Finanzdienstleistungsumfeld. Insofern empfinde ich die Commerzbank als eine Bereicherung der Bankenlandschaft. Ob und wie weit so etwas verloren gehen könnte, will ich nicht beurteilen, weil ich die strategische Planung der Unicredit nicht kenne.
Die sehr erfolgreichen US-Tech-Unternehmen sind in der Investor Relations-Arbeit wenig transparent. Macht Sie das nachdenklich?
Siemens gibt so viel Transparenz, wie es zur stringenten Einschätzung unseres Geschäfts notwendig ist. Denn ich glaube fest daran, dass Kapitalmärkte in der Regel sehr stark von Vertrauen und von Nachvollziehbarkeit getrieben sind. Und deshalb ist Transparenz kein Selbstzweck, sondern eine Investition in eine Beziehung zu den Investoren. Die großen Tech-Konzerne schweben derzeit auf einer Erfolgswelle, sodass viele Dinge, die in meinem Alltag eine große Rolle spielen, für sie zumindest im Moment keine Bedeutung zu haben scheinen.
Was erwartet die Aktionäre im nächsten Jahr, Herr Thomas?
Wir wollen weiterhin höchst attraktiv sein. Den quantifizierten Ausblick liefern wir im November. Grundsätzlich gilt, das Managementteam will weiterhin seinem eigenen Anspruch gerecht werden: Wir wollen ein großartiges Unternehmen noch besser machen. Ich genieße es, eine so enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit als Team im Vorstand erleben zu dürfen. Das ist in gewisser Weise eine Krönung meines eigenen Arbeitslebens.
IM INTERVIEW: RALF THOMAS
„Für Siemens sind die großen Wachstumstreiber intakt“
Der Finanzvorstand über die Ergebnisse des ablaufenden Geschäftsjahres, den Schritt von Digital Industries in die USA und die Bedeutung der Commerzbank
Endspurt für Siemens: Der Konzern ist auf den letzten Metern zum Abschluss des Geschäftsjahres. Finanzvorstand Ralf Thomas legt den Trend der Zahlen im Interview schon einmal offen. Der Kapitalmarkt schaut auch angesichts des Stimuluspakets in China erwartungsvoll auf das Unternehmen. Der Aktienkurs steigt stark.
Das Interview führte Michael Flämig.