IM BLICKFELD

Gasversorgung zwischen Boykottängsten und Überfluss

Von Ulli Gericke, Berlin Börsen-Zeitung, 7.10.2015 Alles ganz anders. Während vor Jahresfrist trotz zu knapp 95 % gefüllter Gasspeicher die Aufregung groß war, ob Russland angesichts der Ukraine-Krise weiter ausreichend und ohne Unterbrechung...

Gasversorgung zwischen Boykottängsten und Überfluss

Von Ulli Gericke, BerlinAlles ganz anders. Während vor Jahresfrist trotz zu knapp 95 % gefüllter Gasspeicher die Aufregung groß war, ob Russland angesichts der Ukraine-Krise weiter ausreichend und ohne Unterbrechung Erdgas liefert und damit die hiesige Versorgung gesichert ist, ist vor dem diesjährigen Winter Entspannung angesagt. Und das, obwohl die Speicher europaweit mit 82,5 % nicht ansatzweise so gut gefüllt sind wie im Herbst 2014 und Deutschland (nach Zahlen von Gas Infrastructure Europe) mit einem Füllstand von lediglich 76 % noch abgeschlagen hinterherhinkt.Und dennoch zeigt sich niemand beunruhigt. Kein Politiker, den die Sorge um Versorgungsengpässe umtreibt. Keine Verbraucherschützer, die angesichts möglicher Engpässe Preiserhöhungen befürchten. Und die Gasindustrie hat ohnehin andere Probleme. Zwar ist der Gaspreis – der in Westeuropa über Jahrzehnte an den Ölpreis gekoppelt war – nicht im selben Umfang abgestürzt wie die Notierungen von Erdöl. Aber auch bei dem flüchtigen Rohstoff gehen die Preise so stark zurück, dass Beobachter in nächster Zeit Preissenkungen für Haushaltskunden erwarten. “Gas ist mehr als genug im Markt”, heißt es in der Branche.Dieses Überangebot führt auch dazu, dass die in früheren Jahrzehnten üblichen deutlichen Preisdifferenzen beim Verkauf von teurem Gas im Winter verglichen mit dem günstigen Sommertarif zunehmend eingeebnet werden. “Ich verstehe nicht, warum ich Gas einspeichern sollte, wenn der aktuelle Winterkontrakt nicht nur unter dem Sommerpreis plus Lagerkosten liegt, sondern auch unter dem Preis, den ich im vergangenen Sommer gezahlt habe”, zitieren die Analysten von ICIS einen italienischen Speicherbetreiber.Hierzulande ist die Lage nicht anders. Solange es angesichts des Überangebots günstiger ist, Gas am Spotmarkt einzukaufen als vorsorglich, aber teuer einzulagern und bei Bedarf wieder ins Netz einzuspeisen, solange werden die Speicher nur eine untergeordnete Rolle spielen. Neubauten für eine größere Reservekapazität sind branchenweit fast durchgängig gestrichen. US-Fracking wirkt bis EuropaDieses rein betriebswirtschaftliche Verhalten setzt allerdings voraus, dass Gas sicher und jederzeit zur Verfügung steht. Und das, obwohl Europa weiterhin das meiste Erdgas aus Russland bezieht – was vor Jahresfrist zu größter Sorge Anlass gab und den Ruf nach einer nationalen Reserve erschallen ließ. Was ist in der Zwischenzeit passiert?Ein Teil des momentanen europäischen Überangebots resultiert (indirekt) aus dem amerikanischen Fracking. Weil dort Öl und Gas im Überfluss gefördert werden, drängt preiswerte US-Kohle auf den Weltmarkt und drückt in Europa das deutlich weniger klimaschädliche Erdgas aus der Stromerzeugung. Die schwache Konjunktur senkt den Gasverbrauch zusätzlich. Und die Wende hin zu erneuerbaren Energien lässt die Nachfrage nach fossilen Rohstoffen weiter zurückgehen.Ist Gas reichlich vorhanden, sinken die Ängste, erpressbar zu sein. Zugleich ist in den vergangenen zwölf Monaten das Bewusstsein gewachsen, dass nach wie vor fast drei Viertel des in der EU28 verbrauchten Gases in Westeuropa selbst gefördert werden, wobei Norwegen seine Förderkapazitäten weiter ausbaut. Hinzu kommt LNG (für Liquefied Natural Gas), also verflüssigtes Erdgas, das per Schiff über die Weltmeere transportiert wird und in Europa zuletzt für etwa ein Zehntel der Importe stand. Damit wurden die installierten Terminalkapazitäten nicht einmal zur Hälfte ausgenutzt, weil andere Bezugsquellen günstiger waren. Reserven sind also genügend vorhanden – auch wenn die Speicherreserven (zumindest hierzulande) nur teilweise genutzt werden.In diesem Umfeld legte Gazprom vor einigen Wochen Pläne für einen Ausbau der Ostsee-Pipeline Nordstream vor. Zusammen mit Eon, der BASF-Tochter Wintershall, Shell, der österreichischen OMV sowie Engie aus Frankreich sollen die seit 2012 fertigen Rohre 1 und 2 um eine dritte und vierte Pipeline ergänzt werden, womit die jährliche Transportkapazität auf 110 Mrd. Kubikmeter verdoppelt würde. Das erste Gas durch die neuen Röhren soll Ende 2018/Anfang 2019 fließen.Wegen dieser Ausbaupläne speckt Gazprom umgekehrt Turkish Stream ab. Die vorgesehene Gaspipeline durch das Schwarze Meer soll statt aus vier nur aus zwei Röhren bestehen, sagte Gazprom-Chef Alexej Miller gestern in St. Petersburg. Damit halbiere sich die Gesamtkapazität der Leitung auf rund 32 Mrd. Kubikmeter pro Jahr. Mit der Hinwendung nach China und Plänen, die Türkei zur Gasdrehscheibe zu machen, wollte sich das wegen der Krim-Annexion mit Sanktionen belegte Russland Alternativen zum europäischen Markt eröffnen. Nur kurzer Blick nach OstenGut ein Jahr später gilt das nicht mehr – weil sowohl das Reich der Mitte als auch die Türkei selbstbewusster sind als erwartet. Auffällig ist jedenfalls, wie sehr die staatsdominierte Gazprom in jüngster Zeit Mittel- und Westeuropa sowie Brüssel entgegengekommen ist – sei es bei der Belieferung der Ukraine mit Gas oder mit einer Gasauktion, die der EU-Kommission signalisieren sollte, dass der Energieriese die bislang bekämpften Brüsseler Regulierungsregeln anerkennen will.