Gesetzentwurf zur Online-HV fällt bei Investoren durch
Von Sabine Wadewitz, Frankfurt
Rein virtuelle Hauptversammlungen sind in Zeiten der Corona-Pandemie durch eine Notgesetzgebung der Bundesregierung ermöglicht worden. Nun soll das Format dauerhaft als Modell im Aktiengesetz zur Verfügung gestellt werden. Der unlängst veröffentlichte Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums versucht das Aktionärstreffen im Online-Format zu entzerren, indem Informations- und Entscheidungsprozesse vor die Hauptversammlung (HV) verlagert werden. So sollen etwa Gegenanträge nur noch vor der Veranstaltung gestellt werden.
Beim Auskunftsrecht kann der Vorstand bestimmen, dass Aktionäre ihre Fragen spätestens vier Tage vor der HV über elektronische Kommunikation einreichen. Die Fragen werden allen Anteilseignern zugänglich gemacht. In dem Fall soll das erstmalige Stellen von Fragen in der Versammlung indes nicht mehr zulässig sein. In der HV wird jedoch ein „Nachfragerecht zwingend vorgesehen“, heißt es in der Begründung zum Referentenentwurf.
Die Anteilseigner können vor dem Aktionärstreffen zudem Stellungnahmen einreichen, auch das soll Zeit sparen. Die Unternehmen müssen darüber hinaus in der HV den Anlegern eine dosierte Redemöglichkeit im Wege der Videokommunikation gewähren. In den Redebeiträgen dürfen anders als in der Präsenzhauptversammlung keine Fragen und Nachfragen gestellt werden, dies geht nur auf dem Wege elektronischer Kommunikation.
Abkehr vom hybriden Modell
Der Gesetzgeber weist darauf hin, dass die virtuelle HV von der Praxis dadurch weiterentwickelt und an die klassische Präsenzversammlung angenähert werden könne, indem mehr Rechte gewährt würden als in den gesetzlichen Mindeststandards vorgesehen. Diese Option besteht nach dem Referentenentwurf indes nicht für das Fragerecht in Redebeiträgen. Beobachter schließen nicht aus, dass hier in Berlin nachjustiert wird. Ein hybrides Format, die Kombination von Präsenz- und Online-HV, wäre nach Einschätzung von Juristen schon im bestehenden Rechtsrahmen möglich. Dieses Modell wird von vielen Investoren bevorzugt, Unternehmen lehnen es mehrheitlich ab mit Verweis auf hohe Kosten und technische Risiken.
Nicht der große Wurf
Der Gesetzesvorstoß zur virtuellen HV stößt bei Investoren auf deutliche Kritik. Zwar wird vielerorts goutiert, dass mit der Veröffentlichung von Vorstandsrede, Statements und Aktionärsfragen schon vor der Veranstaltung Transparenz geschaffen werden kann. Doch dass während der virtuellen HV kein direkter Dialog über Videokommunikation ermöglicht wird und die Rednerliste auch erst nach Beantwortung der Fragen abgearbeitet werden kann, sorgt bei Anlegervertretern für Kopfschütteln.
„Wir sind mit dem Referentenentwurf nicht zufrieden. Demokratie braucht Debatte. Für Aktionäre soll das künftig nicht mehr gelten“, sagt Timm Sachse, Corporate-Governance-Experte des deutschen Fondsverbands BVI. Der Gesetzesvorschlag steht für ihn im Widerspruch zum Koalitionsvertrag, wonach Aktionärsrechte in virtuellen Hauptversammlungen uneingeschränkt gewahrt werden sollen.
„Investoren bevorzugen die Präsenzhauptversammlung“, betont Sachse. Virtuelle Formate – in jeglicher Form – könnten diese in puncto Interaktion, Kommunikation oder Stimmungslage aus seiner Sicht nicht ersetzen. „Wir hätten uns deshalb gewünscht, dass der Gesetzgeber sich einen etwas größeren Wurf zutraut, nämlich um die Präsenzhauptversammlung zu modernisieren und zu digitalisieren“, fordert der BVI-Vertreter. Seit längerem gebe es im Aktienrecht die Möglichkeit, hybride Instrumente einzusetzen. Das werde in der Praxis leider nicht genutzt, obwohl die technischen Möglichkeiten dafür verfügbar seien, bedauert Sachse. Auch der Gesetzgeber unterstelle ja, dass Aktionäre problemlos über Video live in die Hauptversammlung geschaltet werden könnten.
„Das Narrativ des Bundesjustizministeriums und der Unternehmen, wonach der Referentenentwurf die Aktionärsrechte vollumfänglich gewährleistet, ist absurd“, ergänzt Sachse. Die Regelungen gewährten zwar mehr Rechte als die Notfallgesetzgebung zur virtuellen Hauptversammlung. Aber die Aktionärsrechte seien im Referentenentwurf im Vergleich zum geltenden Aktiengesetz weiterhin stark eingeschränkt – „denn es ist keine Generaldebatte mehr möglich“. „Aktionäre brauchen nicht nur die Redemöglichkeit, sondern ein mündliches Frage- und auch Auskunftsrecht in der Hauptversammlung, denn sonst kann sich zwischen Unternehmen und Anlegern keinerlei Dialog entwickeln.“
„Wenig Innovationsfreude“
Die Unternehmen haben aus Sicht des BVI bislang in den virtuellen Hauptversammlungen „wenig Innovationsfreude bewiesen“, obwohl das Anfechtungsrecht komplett weggefallen sei. „Wir können als Investoren also nicht darauf setzen, dass die Gesellschaften künftig in Form von Best Practices über die geplanten Mindeststandards hinausgehen werden. Wir verstehen auch nicht, warum der Gesetzgeber sich nicht bemüht, das virtuelle Format für die Aktionäre attraktiv zu gestalten. Die Anleger, also die Eigentümer, werden so nicht gewillt sein, dieses Format als Option in die Satzung aufzunehmen“, resümiert Sachse.
Anwälte, die Unternehmen im Thema Hauptversammlung beraten, können dem Referentenentwurf eher Gutes abgewinnen, sehen aber auch Nachbesserungsbedarf. Carsten Schapmann, Gesellschaftsrechtler und Partner im Düsseldorfer Büro der Kanzlei Hengeler Mueller, spricht sich dafür aus, „noch konsequenter“ Informations- und Entscheidungsprozesse vor die virtuelle HV zu verlagern.
Aus seiner Sicht sollten alle Anträge und nicht nur Gegenanträge vorher eingereicht werden. Denn sonst entstehe bei spontan in der HV gestellten Anträgen das Risiko von Zufallsmehrheiten. Es sei nicht immer sicher vorhersehbar, wer zum Zeitpunkt der Antragsstellung noch zugeschaltet sei und dann direkt seine Stimme abgeben könne. „Hier kann ganz schnell die Minderheit zur Mehrheit werden, und das ist nicht sachgerecht“, sagt der Jurist. „Die Anlässe für Anträge auf Vertagung, Einzelentlastung oder Sonderprüfung fallen im Regelfall ja nicht vom Himmel, oft sind sie vorher bekannt, so dass der Antrag auch im Vorfeld der Hauptversammlung gestellt und begründet werden kann“, ergänzt er.
Der Anwalt hält das vorgeschlagene Verfahren zum Auskunftsrecht der Aktionäre für sachgerecht. „Ziel des Gesetzgebers ist es, bei der virtuellen HV das gesamte Verfahren zur Einreichung von Fragen auf ein elektronisches Medium zu kanalisieren. Das erleichtert und beschleunigt die Vorbereitung der Antworten – insbesondere bei umfangreichen Fragen mit vielen Unterfragen ein Vorteil.“
Der Anwalt hält es für möglich, dass ein Redner eine vorab auf elektronischem Weg eingereichte Frage in seinem Videoauftritt wiederholt. „In einer Frage kann dabei auch ein Statement liegen, wobei die Abgrenzung nicht immer ganz einfach sein dürfte. Eine im Redebeitrag so wiederholte oder vorgetragene Frage ist im rechtlichen Sinne jedoch nicht gestellt. Dies ist ausschließlich auf dem von der Gesellschaft vorgegebenen elektronischem Wege möglich“, stellt Schapmann klar.
Umstritten ist, wie weit das postulierte Nachfragerecht auszulegen ist. Ob man über das Aktionärsportal nur dann nachfragen darf, wenn man schon vor dem Aktionärstreffen Fragen eingereicht hat, geht aus der Formulierung des eigentlichen Gesetzes nicht ganz klar hervor. Andreas Merkner, Partner der Kanzlei Glade Michel Wirtz, hält dies für die „Gretchenfrage“. Sein Kollege Friedrich Schulenburg gibt zu bedenken, dass Aktionäre auch in der Präsenz-HV Fragen nicht nur für sich allein stellen. „Von daher könnte man dazu kommen, dass Anteilseigner auch in der virtuellen HV nicht nur auf Themen reagieren können, die aus ihren eigenen Fragen offen geblieben sind.“ Aufgrund des Konzepts der virtuellen HV, Themen in die Zeit davor zu verlagern, sei es aber nur folgerichtig, „Aktionären nur Nachfragen zu ihren eigenen Fragen zu ermöglichen“, sagt Schulenburg.
Merkner weist darauf hin, dass sich aus der Gesetzesbegründung immerhin eindeutig ergebe, dass das Nachfragrecht voraussetzen soll, dass von dem betreffenden Aktionär zuvor zumindest eine Frage eingereicht wurde. „Aber ein solcher Anknüpfungspunkt bietet im Grunde keine sinnvolle Differenzierung; insofern sollte im Gesetzentwurf klargestellt werden, dass Nachfragen in der HV nur bezogen auf eigene Fragen möglich sind“, sagt Merkner.
Variation möglich
Hengeler-Partner Schapmann hält es indes für eine diskussionswürdige Lösung, allen, die Fragen eingereicht und sich damit beteiligt haben, ein Nachfragerecht zu allen insgesamt eingereichten Fragen zu gewähren. „Ziel der Hauptversammlung ist es ja, eine vernünftige Willensbildung auf informierter Basis zu ermöglichen, um dann Beschlüsse zu fassen“, meint der Anwalt.
Er hielte es für sehr sinnvoll, auch die Antworten auf vorab eingereichte Fragen schon vor der Hauptversammlung zu veröffentlichten und nicht mehr in der Veranstaltung zu verlesen. „Das entschlackt die Antwortrunde in der Hauptversammlung. Denn oft werden überlange Fragenkataloge mit vielen Detailfragen oder eher langweilige Standardfragen eingereicht, die wenig zu einer konstruktiven Diskussion beitragen und deren Verlesung viel Zeit kostet. Gleichzeitig könnte sich der Aktionär besser auf Nachfragen vorbereiten, wenn die vorab veröffentlichte Antwort aus seiner Sicht unzureichend sein sollte“, erklärt Schapmann.
Die Gesellschaften sind auch bei Ermächtigung in der Satzung nicht daran gebunden, stets eine virtuelle HV abzuhalten. „Die Unternehmen dürften die Formate über die Jahre variieren, um zum Beispiel für weitreichende Entscheidungen wie Squeeze-outs oder Strukturmaßnahmen eine Präsenzversammlung durchzuführen“, sagt Merkner. „Die virtuelle HV ist zwar nach der Gesetzesbegründung ausdrücklich keine Veranstaltung zweiter Klasse, in der Wahrnehmung der Investoren wird sie aber qualitativ doch nicht ganz an eine Präsenzversammlung heranreichen“, gibt der Anwalt zu bedenken. „Deshalb werden die Unternehmen in ihrer Satzung das virtuelle Format sicherlich nicht für fünf Jahre als einzige Versammlungsform rechtsverbindlich festschreiben. Das wäre theoretisch möglich, ist in der Praxis aber nicht zu erwarten“, ergänzt Schulenburg.
Marc Löbbe Partner von SZA Schilling, Zutt & Anschütz, hält es für schwer nachvollziehbar, warum die Möglichkeit einer virtuellen Hauptversammlung per Satzung auf fünf Jahre befristet sein soll: „Eine dauerhafte Lösung wäre wünschenswert gewesen. Nur so kann die virtuelle Hauptversammlung für Unternehmen eine gleichwertige Alternative zur Präsenzhauptversammlung sein“, meint der Anwalt.
Guido Quass, Partner von Menold Bezler, weist auf spezifische Herausforderungen mit Blick auf unterschiedliche Unternehmensgrößen hin. „Vor allem die Online-Zuschaltung von Aktionären für Redebeiträge bedeutet einen gewissen Aufwand, so dass sich für kleinere Hauptversammlungen die herkömmliche Präsenz als praktikabler darstellen könnte“, meint der Gesellschaftsrechtler.
Nicht die große Bühne
Er sieht Vor- und Nachteile im Online-Format. Professionellen HV-Rednern, die es gewohnt seien, ihre Reden am Pult in der Versammlungshalle zu halten, werde mit der virtuellen HV ein Stück weit „die große Bühne“ genommen. Andererseits werde Aktionären die Teilnahme ermöglicht sowie die Gelegenheit zu Fragen und Stellungnahmen gegeben, die sonst nicht zur Versammlung anreisen würden. „Dies kann bei kleineren Hauptversammlungen sogar zu einer Belebung führen, bei für die Gesellschaften entsprechend höherem Aufwand“, sagt Quass. Das bereits jetzt mögliche, aber in verschiedener Hinsicht komplizierte und aufwendige hybride Modell werde in der Praxis gescheut.