Gewinnprognosen an Wall Street im Rückwärtsgang

Quartalsberichte boten wenig Lichtblicke - Ein Drittel der Unternehmen wagt keinen Ausblick - Analysten stochern im Nebel

Gewinnprognosen an Wall Street im Rückwärtsgang

nok New York – Der Trend der Aktienkurse an der Wall Street koppelt sich immer weiter von der Entwicklung der Unternehmensgewinne ab. Der marktbreite Aktienindex S&P 500 hat seit Ende März, dem Ende des ersten Quartals, trotz Coronakrise um rund 17 % zugelegt. Die Prognosen für die Gewinne der im S&P 500 abgebildeten Unternehmen sind im gleichen Zeitraum dagegen kontinuierlich gefallen.Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) für den S&P 500 kletterte entsprechend und liegt gemessen an den Gewinnerwartungen für die kommenden 12 Monate bei 21. Damit ist der Index überdurchschnittlich hoch bewertet. Nach Angaben des Informationsdienstes Factset beläuft sich das KGV des amerikanischen Marktbarometers im 10-Jahres-Durchschnitt auf 15.Die Unternehmensgewinne im S&P 500 sind im ersten Quartal angesichts der krisenbedingten Geschäftsausfälle unter anderem von Einzelhändlern und Fluggesellschaften im Vergleich zum Vorjahr um fast 15 % gefallen. Das geht aus einer aktuellen Studie von Factset hervor, die sich auf die vorliegenden Ergebnisse von 95 % der S&P-500-Konzerne stützt. Im Verlauf der Bilanzsaison im April und Mai hatten die Gewinnerwartungen um fast 8 Prozentpunkte nachgegeben.Für das laufende zweite Quartal und das Gesamtjahr haben Analysten ihre Prognosen ebenfalls deutlich heruntergeschraubt. Für das zweite Jahresviertel, das viel stärker im Zeichen der Corona-Pandemie steht als das Auftaktquartal, kalkulieren Auguren aktuell mit einem durchschnittlichen Gewinnrückgang um mehr als 40 % – fast 30 Prozentpunkte mehr, als noch Ende März prognostiziert wurde. Auch für das Gesamtjahr 2020 sind die Erwartungen düster. Analysten fürchten laut Factset einen Gewinnrückgang um mehr als 20 %. Erst für das Auftaktviertel 2021 prognostizieren Analysten eine Kehrtwende.Längerfristige Prognosen sind angesichts der vielen Unwägbarkeiten in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie aber mit besonderer Vorsicht zu genießen. Ein Drittel der S&P-500-Konzerne hat die eigenen Prognosen für das Gesamtjahr 2020 wegen der unklaren Folgen ganz zurückgenommen. “Derzeit ist es UPS nicht möglich, das Ausmaß der geschäftlichen Auswirkungen oder die Dauer der Corona-Pandemie vorherzusagen”, hieß es in einer Mitteilung des großen Logistikkonzerns, die entsprechenden Stellungnahmen anderer Firmen ähnelte.In der Regel geben Unternehmen Analysten für die Bewertung der geschäftlichen Aussichten eine Orientierungshilfe, die im Jargon der Wall Street “Guidance” genannt wird. “Der Mangel an Guidance von einer solch hohen Zahl von Unternehmen vermehrt für 2020 die Unwägbarkeiten für die Gewinnprognosen”, kommentierte Factset-Analyst John Butters.Im ersten Quartal am härtesten getroffen wurden die zyklischen, also konjunktursensiblen Konsumwerte, deren Gewinnwachstum um mehr als 60 % rückläufig war. Aufgrund der zur Eindämmung der Corona-Pandemie verfügten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen blieben viele Geschäfte geschlossen. Auch die Tourismusbranche litt unter ausbleibenden Umsätzen. Besonders stark verfehlten die Prognosen in diesem Segment die Discount-Warenhauskette Ross Stores, der Kasinobetreiber Las Vegas Sands und die Hotelkette Marriott International.Finanzkonzerne litten unter der deutlich gestiegenen Risikovorsorge für notleidende Kredite. Angesichts dramatisch gestiegener Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten bereiten sich Banken darauf vor, dass viele Privatkunden Verbraucherkredite und Kreditkartenschulden nicht zurückzahlen können. Die im texanischen Dallas ansässige Regionalbank Comerica litt zudem unter ihrem Engagement bei Energiefirmen, die wegen der gefallenen Ölpreise unter Druck stehen.Unter Industriewerten fielen besonders der Flugzeughersteller Boeing und die im S&P 500 notierten Fluggesellschaften negativ auf. Die Branche wurde von den Reisebeschränkungen stark in Mitleidenschaft gezogen. Positive Überraschungen gab es in Branchen, die als Gewinner der Krise oder zumindest als widerstandsfähiger gelten. Dazu gehörten Unternehmen im Gesundheitsbereich und aus der Informationstechnologie. Auch die Gewinne nichtzyklischer Konsumwerte legten im ersten Quartal überraschend stark zu.