Chipmangel

Großer Hunger auf Chips

Die Autoindustrie muss sich bis weit ins nächste Jahr auf einen Mangel an Halbleitern einstellen. Fachleute empfehlen eine langfristigere Planung.

Großer Hunger auf Chips

Von Joachim Herr, München

Das Geschäft für die Autoindustrie läuft glänzend: Die Absatzzahlen steigen mit zum Teil deutlich zweistelligen Raten, das tiefe Tal im Corona-Jahr 2020 liegt weit zurück, das Niveau von 2019 wird wieder erreicht oder schon übertroffen. Im ersten Halbjahr legten die Neuzulassungen in Europa um ein Viertel auf fast 5,4 Millionen Pkw zu. Und doch ist die Lage angespannt, denn die Hersteller und ihre Zulieferer müssen eine Mangelwirtschaft bewältigen. Es fehlt an Halbleitern, von denen immer mehr in Autos eingebaut werden.

Stellantis, der Konzern mit den Marken Peugeot, Citroën, Fiat, Chrysler und Opel, kündigte vor kurzem an, wegen der zu geringen Verfügbarkeit von Mikrochips in diesem Jahr voraussichtlich 1,4 Millionen Autos nicht produzieren zu können. Auch im Premiumsegment gibt es Einbußen. So rechnet BMW damit, dass ohne den Chipmangel in diesem Jahr 90000 Fahrzeuge mehr verkauft werden könnten. Das Center Automotive Research (CAR) von Ferdinand Dudenhöffer wagt die Prognose, in diesem Jahr könnten in der Welt 5,2 Millionen neue Pkw wegen fehlender Halbleiter nicht gebaut und verkauft werden. Das entspricht fast der Hälfte der gesamten Jahresproduktion in der EU.

Der Engpass hat auch Folgen für die Beschäftigung: Die Autohersteller müssen zeitweise ihre Produktion unterbrechen, ein Teil der Belegschaft wird in Kurzarbeit geschickt. Eine rasche Besserung ist nicht in Sicht. Bis ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage herrscht, wird es nach Meinung von Reinhard Ploss noch einige Zeit dauern: „Frühestens weit im Jahr 2022“, sagt der Vorstandsvorsitzende von Infineon, des weltweit führenden Produzenten von Chips für Autos. Auf eine Entspannung im kommenden Jahr hofft die gesamte Autoindustrie samt Zulieferern.

Aufträge storniert

Dass es überhaupt so weit gekommen ist, hat mehrere Gründe. Wegen der Winterstürme in den USA, wegen Erdbeben, eines Brands in einer Fabrik und hoher Covid-19-Infektionszahlen in Südostasien stand die Fertigung in einigen Chipwerken zeitweise still. Das verschärfte die Lage. Als wichtigsten Grund für den Mangel in der Autoindustrie nennen Fachleute in der Elektronikindustrie und Berater jedoch die Stornierung von Aufträgen im vergangenen Jahr, nachdem die Nachfrage nach Fahrzeugen kräftig gefallen war.

Eine abrupte Wende in die andere Richtung ist nicht möglich. Die Vorlaufzeit für die Produktion von Chips beträgt mindestens zehn bis zwölf Wochen, wie Ulrich Schaefer, Marktexperte für Mikroelektronik vom Elektroverband ZVEI, berichtet. Marcus Kleinfeld vom Beratungsunternehmen Alix Partners formuliert es drastischer: „Die Planungszyklen beider Seiten passen nicht zusammen.“ Die Halbleiterbranche plane Monate im Voraus, die Autoindustrie auf deutlich kürzere Sicht. Schnell wie Windhunde zu sein, ist deshalb allenfalls eine Strategie für Standardprodukte vom Spotmarkt, aber nicht für die in der Branche üblichen Lieferverträge mit längerer Laufzeit.

Hinzu kommt: Chips sind generell immer stärker gefragt. „Der Wettbewerb mit anderen Anwendungen ist massiv gestiegen“, sagt Schaefer vom ZVEI. In der Pandemie nahm wegen des Trends zum Homeoffice die Nachfrage nach Computern und Kommunikationsgeräten stark zu. Gegen die Konkurrenten zieht die Autobranche oft den Kürzeren: „Sie ist nicht unbedingt immer erster Sieger, weil die Unterhaltungselektronikindustrie bereit ist, jeden Preis zu zahlen“, meint Schaefer. Die Autoindustrie achtet mehr auf Kosten.

Steigender Wert

Der Bedarf an Halbleitern in Fahrzeugen nimmt weltweit auf alle Fälle zu (siehe Grafik). Gründe sind unter anderem die zunehmende Verbreitung von Fahrerassistenzsystemen zum Schutz der Insassen, das autonome Fahren und die Kommunikation zwischen Autos. Der ZVEI schätzt, dass der durchschnittliche Wert der Halbleiter in einem Fahrzeug von zuletzt 744 Dollar auf 1050 Dollar in vier Jahren steigt. Im Jahr 2000 waren es erst 206 Dollar.

Wie kann sich die Autobranche gegen künftige Engpässe wappnen? Schaefer empfiehlt eine längerfristige Planung der Autoindustrie. Das erfordert ein klares Umdenken in der Branche: „Ihre Lieferkette ist für geringe Volumenschwankungen optimiert und auf hohe Effizienz ausgelegt“, sagt Alix-Berater Kleinfeld.

Eine zweite Möglichkeit ist, mehr Chips auf Vorrat zu bestellen. So oder so werden die Kosten steigen. Kleinfeld warnt davor, nicht zu agieren und nur auf eine Entspannung der Lage zu warten: „Bei der nächsten starken Schwankung kommt das Problem wieder.“

Ola Källenius, der Vorstandsvorsitzende von Daimler, gibt zu verstehen, dass er keinesfalls Fehler im Unternehmen erkennt. Jahrzehntelang sei das Netzwerk mit den Lieferanten gut gemanagt worden. Dann kamen Corona und Naturkatastrophen. „Das hätte man nicht planen können“, sagt er. Daimler will jedoch alles genau analysieren, die Lieferketten vom Anfang bis zum Ende betrachten und sehen, welche Lehren sich ziehen lassen.

Vorübergehend behilft sich Daimler damit, die knappen Chips vorwiegend für die größeren und margenstarken Automodelle von Mercedes-Benz zu verwenden. Für die anderen bedeutet das längere Lieferzeiten und für Autokäufer eher schlechte Zeiten. Neufahrzeuge sind knapp, es gibt immer weniger Rabatte. Die Kunden müssen mit höheren Nettopreisen leben, wie das CAR-Institut feststellt. Der Kreditversicherer Euler Hermes kommt in einer Studie zu dem Ergebnis, in Deutschland seien Preiserhöhungen von 4 bis mehr als 10% drin – zumindest bis sich der Ausnahmezustand normalisiere. Aktuell säßen die Autohersteller am längeren Hebel.

Der Verband der Automobilindustrie bringt mehr Chipfabriken in Europa als langfristigen Lösungsansatz ins Spiel. Präsidentin Hildegard Müller appelliert an Deutschland und Europa, sich mehr um die Versorgungssicherheit mit Rohstoffen zu kümmern. Dazu gehörten neue Handelsabkommen und eine aktivere Außenpolitik.

Das nächste Problem

Nach Ansicht von Autoexperte Dudenhöffer steht der nächste Engpass bald bevor. Für die Zeit nach 2023 droht ein Mangel an Batteriezellen, der 2026 den Höhepunkt erreichen könnte und „die Weltnachfrage nach Pkw um 4,4 Millionen Fahrzeuge einbremsen“ würde. Die Begründung des CAR: Zum einen gibt es in allen wichtigen Regionen große Pläne zum Ausbau der Elektromobilität, zum anderen gewinnen Vorräte seit der Halbleiterkrise eine neue Bedeutung. Das sorge für eine zusätzlich künstliche Verknappung von Batteriezellen.

Volkswagen und Daimler wollen die Versorgung deshalb in die eigene Hand nehmen. Vor einem Monat gab der Stuttgarter Konzern die Entscheidung bekannt, mit Partnern selbst Batteriezellen herzustellen. Dafür plant Daimler acht Gigafabriken – vier in Europa, drei in Asien und eine in den USA. Das Unternehmen will dafür über die bisherigen Kooperationen hinaus zusätzliche Partner gewinnen. Schon im März hatte VW-Vorstandschef Herbert Diess angekündigt, in Europa bis 2030 sechs Fabriken für Batteriezellen zu bauen.

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Illustration: Karolin Rothbart

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