ANSICHTSSACHE

Gut, aber nicht gut genug

Börsen-Zeitung, 18.9.2020 Kommt ein Unternehmen in eine Krise, dann wird zunehmend eine Mitverantwortung beim Aufsichtsrat gesucht. Hätte es der Aufsichtsrat, das oberste Kontrollgremium, nicht besser wissen können oder sogar müssen? Die momentane...

Gut, aber nicht gut genug

Kommt ein Unternehmen in eine Krise, dann wird zunehmend eine Mitverantwortung beim Aufsichtsrat gesucht. Hätte es der Aufsichtsrat, das oberste Kontrollgremium, nicht besser wissen können oder sogar müssen? Die momentane Pandemie bringt die Aufsichtsräte in eine Sondersituation: Durch den Wegfall von Absatzmärkten, die Unterbrechung von Lieferketten und die damit einhergehenden finanziellen Herausforderungen sind viele Unternehmen im Krisenmodus. Hengeler Mueller hat gemeinsam mit dem Arbeitskreis deutscher Aufsichtsrat (AdAR) eine empirische Untersuchung durchgeführt, um die Krisenresilienz ihres Gremiums und dessen Handlungsfähigkeit in der gegebenen Situation zu beurteilen. Krisenresistenter AufsichtsratDie Lage ist zunächst überraschend entspannt: Unsere Studie zeichnet ein überwiegend positives Bild in Bezug auf die Widerstandsfähigkeit der Aufsichtsratsfunktion im aktuellen Umfeld. Fast 70 % der antwortenden Aufsichtsräte sind der Meinung, dass die Organisation ihres Aufsichtsrats bestmöglich auf die Krisenbewältigung ausgerichtet ist. Immerhin 15 % können dem allerdings nicht zustimmen und sehen in ihren Unternehmen Handlungsbedarf.Weiterhin fühlen sich mehr als drei Viertel der befragten Aufsichtsräte zeitnah und angemessen über die aktuelle Situation und die Maßnahmen des Vorstands zur Krisenbewältigung informiert. Auch ihre Ressourcenausstattung schätzen die befragten Aufsichtsräte überwiegend als gut ein. Mehr als drei Viertel halten es für zutreffend beziehungsweise absolut zutreffend, dass ihnen aktuell genügend Ressourcen zur Verfügung stehen. Gelistete Firmen zufriedenerAber: Knapp 13 % sehen dies nicht so. Bei mehr als jedem zehnten Unternehmen hat der Aufsichtsrat in der Krise keine ausreichenden Ressourcen, um seine Aufgabe bestmöglich zu erfüllen. Auch die Kommunikation funktioniert bei der Mehrheit: Knapp zwei Drittel der befragten Aufsichtsräte finden, dass ausreichend über die Arbeit und die Ergebnisse aus den Ausschüssen gesprochen wird, insbesondere insoweit diese auch in die Krisenbewältigung eingebunden sind.Doch dies gilt nicht gleichermaßen für alle Unternehmen: Es zeichnet sich ein Unterschied zwischen börsennotierten und nicht börsennotierten Unternehmen ab. Bei den gelisteten Unternehmen zeigten sich 91 % zufrieden mit der Informationspraxis des Vorstands, bei nicht gelisteten Unternehmen lag der Wert lediglich bei 76 %. Vertreter gelisteter Unternehmen bewerten ihre Ausstattung mit Zustimmungswerten von 89 % besser als ihre Kollegen aus nicht gelisteten Unternehmen (66 %). Das bedeutet, dass jeder dritte befragte Aufsichtsrat eines nicht börsennotierten Unternehmens seine Ressourcen als aktuell nicht ausreichend bewertet. Auch in puncto Gremien-Kommunikation sehen bei den nicht börsennotierten Unternehmen rund 20 % Nachholbedarf (versus nur 7 % bei börsennotierten Unternehmen). Höhere TagungsfrequenzWas können die Aufsichtsräte tun? Etwas mehr als die Hälfte der Befragten hält eine Erhöhung der Tagungsfrequenz des Aufsichtsrats für sinnvoll. Dabei zeigen sich auch hier Unterschiede in Abhängigkeit von der Börsennotierung. Bei befragten Aufsichtsräten aus der Gruppe aller gelisteten Unternehmen liegt der Anteil bei 47 %. Dagegen unterstützen fast zwei Drittel (64 %) der befragten Aufsichtsratsmitglieder nicht börsennotierter Unternehmen diese Maßnahme. An zweiter Stelle steht die Überarbeitung des Berichtswesens. Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen nennen eine Notwendigkeit für diese Maßnahme allerdings nur zu 31 % (versus 56 % bei nicht börsennotierten Unternehmen). Die Einrichtung eines Ad-hoc-Ausschusses zur Krisenbewältigung ziehen 38 % der befragten Aufsichtsräte nicht gelisteter Unternehmen als Option in Erwägung, bei börsennotierten Unternehmen sind es nur rund 27 %.Ähnlich verhält es sich bei der Maßnahme der Schaffung eines direkten Zugangs zu Stabsfunktionen wie Head of Legal, Head of Risk, Head of Controlling etc. Bei börsennotierten Organisationen liegt die Zustimmungsquote lediglich bei 22 %, bei nicht gelisteten Unternehmen dagegen bei einem Drittel (33 %). Auch sehen kleinere Unternehmen hier deutlich mehr Handlungsbedarf als Großkonzerne (circa 42 % der Unternehmen mit einem Umsatz von weniger als 100 Mill. Euro versus 0 % bei Unternehmen mit einem Jahresumsatz von mehr als 10 Mrd. Euro).Es zeigt sich, dass insbesondere die Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen tendenziell besser auf die Krise eingestellt sind. Für Investoren ist dies eine relativ gute Nachricht. Die strengere Governance und das für börsennotierte Unternehmen komplexere Regelwerk hat die Arbeit im Aufsichtsrat professionalisiert. Die Ergebnisse sind gut, aber noch nicht gut genug. Auch bei den börsennotierten Unternehmen ist eine Homogenisierung der Qualität im höchsten Kontrollgremium des Unternehmens ein Ziel, das nicht aus den Augen verloren werden darf. Nicht börsennotierte Unternehmen müssen zudem aufschließen,und ein einheitlicherer, lückenloser Standard an Professionalität muss sich etablieren.Die aktuelle Krise trifft viele Unternehmen gleichermaßen und stellt Geschäftsmodelle oft nur temporär in Frage. Ganz anders sieht es aus bei spezifischen, individuellen Unternehmenskrisen. Diese haben das Potenzial, die Aufsichtsgremien noch stärker zu fordern. Nicht alle Unternehmen sind Stand heute dafür ausreichend gerüstet. Daniela Favoccia ist Partnerin der Kanzlei Hengeler Mueller und Stefan Siepelt ist Partner der Kanzlei LLR und Vorstand im Arbeitskreis deutscher Aufsichtsrat. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——Von Daniela Favoccia und Stefan SiepeltEs zeigt sich, dass Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen tendenziell besser auf die Krise eingestellt sind – für Investoren eine relativ gute Nachricht.—