Healthineers laboriert an Atellica
Von Michael Flämig, München
Siemens Healthineers hat einen Lauf. Der Aktienkurs ist am Mittwoch dieser Woche auf das Rekordhoch von 53,84 Euro gestiegen, die Marktkapitalisierung beträgt gut 60 Mrd. Euro. Der Abschluss des Zukaufs des US-Strahlentherapiespezialisten Varian, die Coronatests und die Konzentration aller Staaten auf Gesundheitsthemen geben Rückenwind. Aus dem Fokus geraten ist dabei ein Geschäftsfeld, in das Siemens einst durch drei Akquisitionen für mehr als 10 Mrd. Euro eingestiegen ist: die Labordiagnostik, die in der Medizintechnik für die Untersuchung beispielsweise von Blutproben sorgt. Wie läuft die Markteinführung der neuen Plattform Atellica Solution?
Neustart vor zwei Jahren
Beim Börsengang Anfang 2018 war der Neustart als „einer der zentralen Wachstums- und Rentabilitätstreiber“ der Diagnostik-Sparte angepriesen worden. Doch die hochfliegenden Pläne erwiesen sich als Fehlkalkulation. Die Markteinführung stockte, im Juli 2019 zog der Aufsichtsrat die Reißleine: Die Auslieferungsziele wurden gestrichen, und das verantwortliche Vorstandsmitglied musste gehen. CEO Bernd Montag übernahm direkt die Verantwortung für die Sparte und richtete die Prozesse neu aus. Er sprach von Schwächen auf dem US-Markt, auch sei die Organisation nicht ausreichend vorbereitet gewesen auf eine Markteinführung dieser Komplexität. Die Installationszeit sollte sinken. Der Konzern gelobte Besserung.
Was ist in diesen zwei Jahren erreicht worden? Wenn sich das Management äußert, herrscht Optimismus. Extern überprüfbare Daten allerdings sind Mangelware. Im aktuellen Geschäftsbericht findet Atellica Solution nur am Rande Erwähnung. Die Umsatz- und Rentabilitätszahlen der vergangenen Quartale eignen sich nicht als Indikatoren, weil Pandemie-Effekte alles überstrahlen: Erst entfielen zahlreiche Routinetests und schickten die Marge in den Keller, dann stützte die Sonderkonjunktur der Covid-19-Schnelltests die Gewinne. Der Konzern verweist unverdrossen auf Erlöse und Marge als Gradmesser für den Erfolg. Die Zahl ausgelieferter Geräte sei nicht so relevant, weil entscheidend sei, wie viele Geräte in Betrieb seien.
Verkaufszahl sinkt
Die Performance hängt im Markt für Laborgeräte an der installierten Basis. Während der Verkauf der Plattformen wenig Rendite bringt, lässt die spätere Lieferung von Reagenzien die Kasse klingeln. Wilkinson & Co. haben einst vorgemacht, wie dieses Geschäftsmodell funktionieren kann: Die Rasierer werden fast verschenkt, die Rasierklingen bringen das Geld. Hersteller von Bürodruckern bedienen sich ähnlicher Strategien. Besonders reizvoll: Die hochprofitablen Umsätze der Verbrauchsmaterialien sind wiederkehrend und im Normalfall gut planbar. Sie liefern mehr als 90% der Erlöse der Labordiagnostik-Sparte.
Diagnostik-Spartenchef Deepak Nath berichtete auf einer kapitalmarkttagähnlichen Veranstaltung von Siemens Healthineers im November, es seien bis Ende September 4300 Plattformen ausgeliefert worden. Dies sind zwar mehr als die rund 2800 Systeme zwölf Monate zuvor (siehe Grafik). Doch ursprünglich hatte das Unternehmen 7000 Geräte platziert haben wollen. Auch nach dem Streichen der Zielsetzung 2019 wäre zu erwarten gewesen, dass sich – sobald die Schwächen auf dem US-Markt beseitigt sind und die Organisation die Komplexität beherrscht – ein Nachholeffekt zeigt.
Doch blieb nicht nur dieser Schub aus, die Verkaufszahlen sanken sogar: Im Geschäftsjahr 2018/2019 wurden rund 1800 Plattformen verkauft, im Geschäftsjahr 2019/2020 waren es nur noch 1500 Plattformen. Dieses Abbremsen ist umso verwirrender, als Nath im November 2020 erklärte, es würden 35% aller Ausschreibungen für neue Labore gewonnen. Dies entspricht erstens exakt der Planung, zweitens werden damit Marktanteile gewonnen. Der IPO-Prospekt bezifferte ihn einst auf 15% in dem 20-Mrd.-Euro-Markt.
Die erste Erklärung für den fehlenden Schub liegt auf der Hand: Weil mit der Pandemie die Routinetests ausblieben und die Einnahmen einbrachen, traten Betreiber der Labore auf die Bremse und scheuten die Bestellung neuer Plattformen. Diese Verlangsamung allerdings lasse das Geschäftsmodell nicht wackeln, betonte Montag im August 2020.
Das Ausbleiben des Nachholeffekts hat eine tiefere Ursache. Siemens Healthineers hatte sich, begeistert von der eigenen Technik, verkalkuliert: Die Laborbetreiber steigen zwar bei zwingenden Neuausschreibungen auf Atellica um, scheuen aber das erwartete vorzeitige Stilllegen alter Anlagen. Dies erklärt, dass zwar prozentual gesehen so viele Ausschreibungen wie erhofft gewonnen werden, der ursprünglich kalkulierte Schub aber trotzdem ausbleibt.
Das Vertriebsproblem in den USA wurzelt ebenfalls tief. Das Healthineers-Personal, das teils aus den einst zugekauften Firmen stammt, hielt an ihrer vertrauten Vista-Lösung fest – so beraten, griff die Kundschaft lieber zu allerlei Updates als zum Neugerät. Ein Großteil der Belegschaft sei ausgetauscht, betonte Nath. Ein Mentalitätswechsel soll Dynamik bringen.
Zusätzliche Version
Allerdings geht die bisher verkaufte Highend-Lösung von Atellica teilweise am Bedarf der Labore vorbei. Großanbieter wie Quest Diagnostics ordern die Plattform, auch weil sie mit einer personalsparenden Automatisierungsstraße verbunden ist. Kleinere Labore brauchen dies aber nicht. Tath hat daher für Jahresende den Marktstart einer kleineren Atellica-Version mit dem Namen CI1900 angekündigt. Damit folgt Healthineers der Konzernstrategie, Premium-Lösungen erst zeitverzögert für den Massenmarkt bereitzustellen.
Ob der Markt die neue Version akzeptieren wird und wie schnell die Investitionsbereitschaft nach der Pandemie zunimmt, ist unklar. Healthineers registriert eine spartenübergreifend starke Nachfrage in Europa und Asien, Amerika soll sich perspektivisch erholen. In der Labordiagnostik ist das Unternehmen zum Erfolg verdammt, denn es steht ein hoher Goodwill in den Büchern, der sich beim Börsengang auf rund 5 Mrd. Euro addierte. Der Vorstand hat der Diagnostik-Sparte das Ziel gesetzt, das Umsatzplus auf Branchendurchschnitt und die bereinigte operative Marge (Ebit) 2023/2024 auf einen mittleren einstelligen Prozentsatz zu steigern. Im vergangenen Geschäftsjahr wurden 1,8% und im ersten Halbjahr der laufenden Periode 11,1% erwirtschaftet.