IM INTERVIEW: HANS-CHRISTOPH HIRT, HERMES EOS, UND MICHAEL KRAMARSCH, HKP

"In Vergütungssystemen läuft etwas fundamental schief"

Britischer Fondsvertreter bringt reine Festgehälter für Manager in die Debatte - Unternehmensberater plädiert für Abbau von Komplexität und Aktienhaltepflichten

"In Vergütungssystemen läuft etwas fundamental schief"

Das Thema Managergehälter ist ein Dauerbrenner in der öffentlichen Debatte. Institutionelle Investoren sind zunehmend aufgefordert, ihre Eigentümerrechte auch bei dem Thema verantwortungsbewusst wahrzunehmen. In der Vergütungsberatung müssen regulatorische Anforderungen und unternehmensspezifische Ziele in Einklang gebracht werden. Hans-Christoph Hirt, Governance-Experte des britischen Fondsmanagers Hermes, und Vergütungsberater Michael Kramarsch, Managing Partner der Unternehmensberatung HKP, erläutern im Interview, welche Trends sich abzeichnen und wofür sie einstehen.- Herr Hirt, wie intensiv schauen Sie durch die Investorenbrille auf Vorstandsgehälter in Unternehmen?Hirt: Wir schauen uns die Gehälter besonders in England sehr genau an. Dabei ist es für uns entscheidend, dass man die aus den Vergütungssystemen resultierenden Zahlungen nachvollziehen kann. Es sollte erkennbar sein, wie der Vergütungsausschuss seinen Ermessensspielraum ausgeübt hat, welche Ziele er dem Management gesetzt hat und in welchem Umfang diese Ziele erfüllt wurden. Wir plädieren zudem seit langem für einen wesentlichen Aktienbesitz von Vorständen.- Gibt es bestimmte Strukturen oder Einkommenshöhen, bei denen Ihnen die Hutschnur platzt?Hirt: In den vergangenen Jahren hat sich in einigen Märkten gezeigt, dass in den Vergütungssystemen etwas fundamental schiefläuft. Für Deutschland ergibt sich ein wesentlich differenzierteres Bild. Aber auch hier stellt sich die Frage, weshalb Vorstände anders bezahlt werden als jeder normale Arbeitnehmer. Der Großteil der Mitarbeiter in einem Unternehmen bekommt zwölf Monatsgehälter, manchmal dreizehn. Für die oberste Führungsebene wird stattdessen ein kompliziertes Vergütungspaket geschnürt. Was aber bringt diese Komplexität von Vorstandsgehältern? Oftmals verstehen CEOs ja ihr eigenes System nicht.- Damit bietet es keinen Anreiz mehr?Hirt: Der potenzielle Wert kommt bei den Managern nicht mehr an, die Unsicherheit und zeitliche Verzögerung der Auszahlungen wird eingepreist. Hermes hat einen erheblichen Schwenk in ihren neuen Vergütungsprinzipien gemacht. Wir wollen darauf einwirken, dass Komplexität verringert wird. Die Idee, über die Vergütung einen Gleichklang der Interessen von Management, Unternehmen und Investoren herstellen zu können, ist zumindest in England gescheitert. Das muss man sich eingestehen.- Aus Großbritannien war zu hören, dass dort schon ein Wechsel zu reinen Festgehältern diskutiert wird.Kramarsch: Na ja, es wird von einem Investor diskutiert, und das ist Hermes.Hirt: Andere Investoren haben sich noch nicht geäußert, denken aber ähnlich. Wir denken in verschiedenen Szenarien. Der radikalste Vorschlag wäre ein reines Fixum, andere Möglichkeiten beziehen variable Komponenten mit ein – aber immer unter der Maßgabe, Komplexität abzubauen. Es ist uns vollkommen klar, dass man nicht über Nacht auf ausschließliche Festgehälter umstellen kann. Doch wir bringen die Idee als Denkmodell in die Debatte und stoßen auf Resonanz bei Vergütungsberatern und Investoren.- Würde man nicht schon weiterkommen, wenn man die Zielfaktoren für die variable Vergütung überdenkt?Hirt: Das ist auch ein Ansatzpunkt. In den Vergütungskriterien wird zu viel Wert auf Kenngrößen wie Total Shareholder Return (TSR) oder Ergebnis je Aktie (EPS) gelegt. Diese Kriterien spiegeln nicht zwangsläufig wider, ob langfristig Wert geschaffen wird. Die Fonds, für die wir arbeiten, treibt zumindest in Einzelfällen auch die absolute Vergütungshöhe und besonders die Einkommensschere um, wobei es hier im Gesamtbild unterschiedliche Entwicklungen in Deutschland und Großbritannien gibt. In England lag das Verhältnis von CEO-Gehalt zu Durchschnittsverdienst 2002 bei 1 zu 70, heute ist es das 140-Fache. Deutschland steht etwa bei 1 zu 50. Die Schere ist in England deutlich aufgegangen. Das gipfelt in einer Vergütung von 70 Mill. Pfund für den WPP-CEO Martin Sorrell.- Muss man für einen Firmengründer, wie den Chef der Werbeagentur WPP, nicht andere Maßstäbe gelten lassen als für einen angestellten CEO?Hirt: Wir haben im Fall WPP insbesondere kritisiert, dass sich der Vergütungsausschuss anscheinend wenig Gedanken darüber gemacht hat, was in dem vor langer Zeit erstellten Vergütungssystem passieren würde, wenn sich der Aktienkurs entsprechend entwickelt. Solche Fragen muss man auch für ein relativ unwahrscheinliches Szenario durchspielen. Das war ein eindeutiger Governance-Fehler eines Boards, der nicht unser Vertrauen genoss. Vergütungsausschüsse müssen sorgfältig arbeiten, Szenarien rechnen und mögliche Maximalvergütungen bei Investoren zur Diskussion stellen.- Der Governance-Blick muss über das Unternehmen hinausgehen?Hirt: Man muss sich der sozialpolitischen Relevanz des Themas in England bewusst sein. Es ist der Gesellschaft nicht mehr vermittelbar, warum sich Managergehälter so unterschiedlich zum Rest der Belegschaft entwickeln. Die Schere geht auf, und wenig deutet darauf hin, dass der deutliche Anstieg der Gehälter im Einklang mit der Wertschöpfung und der Börsenbewertung der Unternehmen steht.- Sehen Sie sich als Investorenvertreter überhaupt in einer gesellschaftspolitischen Verantwortung? Man könnte es ja auch als Sache des Gesetzgebers betrachten?Hirt: Hermes verwaltet und vertritt Geld treuhänderisch vor allem für Pensionäre. Auf ein Einkommen von 70 Mill. Pfund schauen wir also aus der Position eines durchschnittlichen Menschen, der für seine Altersversorgung spart. Viele Fondsmanager müssen noch umschalten und verinnerlichen, dass sie nicht ihr eigenes Geld verwalten und nicht ihre eigenen Stimmrechte ausüben.- Herr Kramarsch, sind die Vergütungssysteme inzwischen zu komplex, um Leistungsanreize zu setzen?Kramarsch: Bei den Themen Komplexität und Governance stimme ich mit Herrn Dr. Hirt überein. Die Systeme sind teilweise so komplex geworden, dass sie weder die Investoren noch die Betroffenen verstehen. Es ist unübersichtlich geworden, weil einige Unternehmen bei jeder regulatorischen Änderung schlicht neue Anforderungen an ihre bestehenden Modelle angedockt haben. Außerdem treffen im Kreis der Beteiligten sehr viele unterschiedliche Meinungen und Erfahrungen aufeinander. Daraus entstand oftmals der Anspruch, dass sich das gesammelte Know-how im Vergütungssystem wiederfinden sollte – mit dem Resultat einer nicht mehr beherrschbaren Komplexität.- Und in der Governance hat man auch den Überblick verloren?Kramarsch: Nein, nach meiner Wahrnehmung setzen Personalausschüsse und Präsidien inzwischen andere Akzente. Die Gremien sind sich ihrer Verantwortung bewusst. Zudem hat die Mitbestimmung einen dämpfenden Effekt, so dass wir nicht die Entwicklung sehen, wie sie Herr Dr. Hirt für Großbritannien beschreibt.- Gestiegen sind die Saläre aber auch hierzulande.Kramarsch: Seit 2006 sind die Vorstandsgehälter in den Dax-Unternehmen jährlich im Schnitt um 2 % pro Jahr gestiegen. Die Schere ist also keineswegs markant aufgegangen.- Von Einzelfällen abgesehen.Kramarsch: Natürlich gibt es immer wieder den einen Fall. Wenn es sich dann noch um einen großen Automobilhersteller handelt, stürzen sich Politik und Medien darauf. Doch in der Breite taugt das Thema Vorstandsvergütung in Deutschland nicht für den Wahlkampf.- Der Druck von Investoren und Stimmrechtsberatern auf Vergütungssysteme nimmt zu. Artikulieren diese Adressen ihre Vorstellungen so klar, dass man sie als Berater und Aufsichtsrat umsetzen kann?Kramarsch: Die Macht der Investoren nimmt zu, weil sie in den Hauptversammlungen abstimmen müssen – aufgrund eigener oder gesetzlicher Vorgaben. Viele institutionelle Investoren orientieren sich an den Empfehlungen großer internationaler Stimmrechtsberater. Unternehmen müssen sich also mit deren Checklisten auseinandersetzen, unabhängig davon, ob diese ihren nationalen regulatorischen Anforderungen folgen.- Diese Analyse sollte kein allzu großes Problem darstellen?Kramarsch: Die Interessen von Investoren sind sehr heterogen, das macht es schwierig. Ein Pensionsfonds hat einen ganz anderen Governance-Anspruch als ein Hedgefonds. Viele Akteure im Kapitalmarkt verfolgen ein reines Investitionsinteresse und nicht notwendigerweise ein langfristiges Unternehmensinteresse. Es beunruhigt mich zunehmend, dass Kapitalmarktteilnehmer mit einem akzentuierten sehr einseitigen Interesse in einem strategisch wichtigen Thema so viel Macht bekommen, ohne dass sie für ihre Entscheidungen haften müssen. Investoren sind kein Allheilmittel für gute Governance in Unternehmen.- Es sind nun mal die Eigentümer.Kramarsch: Sie sind aber auch aus gutem Grund Element einer Gewaltenteilung im Dreiklang mit Vorstand und Aufsichtsrat. Investoren dürfen das Governance-System nicht am Aufsichtsrat vorbei aus dem Gleichgewicht bringen können.- Herr Hirt, haben Sie Ihre Vorstellungen schon an Aufsichtsräte herangetragen, wonach eine Vergütung aus Fixum und verpflichtendem Aktienbesitz ein adäquates Modell sein könnte?Hirt: Wir sind insbesondere in England mit vielen Unternehmen darüber im Gespräch, bleiben aber realistisch. Es wird auch in England eine Zeit dauern, bis sich fundamental etwas verändert. Voraussetzung ist ja auch ein Meinungsumschwung von großen Stimmrechtsberatern wie ISS, die mit etwas Zeitverzögerung die Vorstellungen ihrer Kunden umsetzen. Einige Unternehmen haben immerhin signalisiert, dass sie ihre Systeme vereinfachen wollen. Die Ergebnisse der Analysen von Long-Term-Incentive-Plänen in England zeigen eindeutig, dass sie ihren Zweck, einen Gleichlauf der Interessen von Unternehmen und Managern herzustellen, nicht erfüllt haben. Auch ihr Motivationseffekt ist zumindest umstritten.- In Deutschland will man nun gerade darauf hinwirken, langfristigen Vergütungskomponenten mehr Gewicht zu geben.Kramarsch: Es ist empirisch belegt, dass ein größerer Anteil an Langfristvergütung das Managementverhalten verändert. Führungskräfte richten sich dann in ihren Unternehmensentscheidungen stärker langfristig aus. Man muss aufpassen, denn die Marktpraxis zwischen Deutschland und England unterscheidet sich fundamental. In Großbritannien beispielsweise wird der Relative Total Shareholder Return (TSR) als Fetisch hochgehalten. In deutschen Vergütungssystemen sind die Chancen-Risiko-Systeme gänzlich anders und balancierter ausgestattet.- Die absoluten Vergütungshöhen liegen in Großbritannien auch über den deutschen.Kramarsch: Über das Quantum von Vergütung kann man aus gesellschaftspolitischer Sicht trefflich streiten. Ein Eingriff über die Vergütungsstruktur bietet hier keine Lösung. Das lässt sich bei Banken erkennen. Politisches Ziel war es, die Vergütungshöhen zu senken. Ergebnis der Regulierung ist ein höherer Anteil von Festvergütungen bei sonst gleichen Summen. Das sollte eine Warnung sein. Ich hielte es für den Sündenfall par excellence, wenn nun bei der Vorstandsvergütung auf den erreichten hohen Niveaus auf Festvergütung umgestellt würde.Hirt: Wir können die Uhren nicht zurückdrehen. Deutsche-Bank-Chef John Cryan hat es einmal sehr schön ausgedrückt: Ich weiß nicht, warum ich einen Bonus bekomme. Diese Äußerung führt auf die zentrale Frage zurück, weshalb die Vergütung des Topmanagements innerhalb einer Bank oder eines Unternehmens so unterschiedlich sein soll. Bietet die Position eines Vorstandsvorsitzenden in einem Dax-Unternehmen nicht für sich genug Motivation? Wie viel Extra-Anreiz braucht ein Topmanager, um noch abends oder am Wochenende zu arbeiten? Das machen sie ohnehin.- Es ist ein Radikalmodell.Hirt: Man sollte die intrinsischen Motivationsfaktoren nicht unterschätzen. Die Vielzahl an komplexen Anreizsystemen und Parallelplänen verschleiert das Vergütungsmodell und verhindert eine offene Diskussion hinsichtlich der Angemessenheit. Warum kann man als Board nicht einfach sagen, dass man zum Beispiel eine durchschnittliche CEO-Vergütung im FTSE 100 von 5 Millionen für angemessen hält. Würde eine Summe ausgesprochen, könnte man ehrlich darüber diskutieren. In England haben wir ja die Situation, dass im Schnitt 75 % der Maximalvergütung ausgezahlt wird. Hier kann man doch nicht mehr über variable Gestaltungen sprechen. Das ist faktisch ein Festgehalt mit einer Verschleierungskomponente.Kramarsch: Ich finde es sehr gut, über dieses Gedankenmodell zu diskutieren. Als Lösung empfehle ich, die variablen Vergütungssysteme dramatisch zu vereinfachen und zu verschlanken. Der Idee, neben der Festvergütung einen großen Anteil in langfristig zu haltenden Aktien zu gewähren, kann ich viel abgewinnen. Eine reine Festvergütung ginge mir aber auch als theoretisches Modell zu weit, weil die unternehmerische Komponente fehlen würde. Ein Unternehmer streicht langfristig einen Zuwachs im Wert seiner Anteile ein und erhält kurzfristig eine am operativen Gewinn bemessene Ausschüttung. Einer ähnlichen Logik sollte die Vorstandsvergütung folgen.- Der Vorstand ist aber Angestellter und kein Unternehmer?Kramarsch: Ein Vorstand steht dem Unternehmer näher als dem einfachen Angestellten. Deshalb halte ich es für richtig, dass ein Vorstand substanziell im eigenen Unternehmen investiert ist. Damit wird auch dem bislang verbreiteten Phänomen entgegengewirkt, dass ein Manager in schlechten Zeiten nicht weniger als im Vorjahr verdient und in guten Jahren mehr. Das kann man nicht als Pay for Performance bezeichnen. Ich verweise gern auf Daimler, wo 2009 der Bonus auf null gesunken ist. Hier stimmt für mich die Symmetrie nach unten und oben.- In der Schweiz gibt es erste Erfahrungen mit bindenden Abstimmungen. Die Aktionärsvereinigung Ethos stellt fest, dass institutionelle Anleger sich beim Votum über absolute Vergütungshöhen zurückhalten und sie nur über Vergütungssysteme abstimmen möchten. Offenbar will man es sich mit überbezahlten, aber guten CEOs nicht verscherzen. Machen sich Investoren so nicht unglaubwürdig in ihren Bestrebungen um gute Governance?Hirt: Ich kenne die Daten nicht. Es ist ein Phänomen, dass viele Fondsmanager es sich mit dem Management in solchen Themen nicht verscherzen wollen, um sich den Zugang zum Unternehmen nicht zu verbauen.- Einerseits wünscht man Stimmrecht, zeigt dann aber nicht Flagge. Schon in der Vergangenheit gab es Kritik, dass Investoren in der Governance erst hinschauen, wenn der Aktienkurs in den Keller geht.Hirt: Das ist ein großes Problem auf der Investorenseite. Staatsfonds und Pensionsfonds müssen ihren Fondsmanagern klarer vorgeben, was sie erwarten, auch hinsichtlich Abstimmungen zum Vergütungssystem. Verbindliche Abstimmung über Vergütung ist gleichwohl kein Allheilmittel. Die Investoren haben in den meisten Märkten auch ohne diese Option genügend Einfluss. Am Rande bemerkt: Hermes hat in Deutschland 2016 in 15 Fällen gegen die Vergütung gestimmt. Dabei haben wir nicht vorrangig die Höhe kritisiert, aber eine ungenügende Transparenz über die gesetzten Ziele und Ausübung von Ermessensspielräumen.Kramarsch: Herr Dr. Hirt und die Investoren, die er repräsentiert, sind leider eine Minderheit im Kapitalmarkt. Die riesige Mehrheit beschäftigt sich nicht intensiv mit Vergütungssystemen, sondern arbeitet Checklisten ab und muss sich für nichts anderes rechtfertigen als für den Anlageerfolg. Dabei kommt nichts Sinnvolles heraus.Hirt: Wir arbeiten für den British Telecom Pension Fund und viele andere Pensionsfonds. Die Kapitalgeber sind also ganz normale Menschen und Arbeitnehmer. Ihnen geht es nicht nur um den Anlageerfolg, sondern auch um die Gesellschaft und Umwelt, in der sie heute und in der Zukunft leben. Es geht um ganzheitliche Returns.- Also müssten die Anreizsysteme für Fondsmanager umgestaltet werden?Kramarsch: Den Relativen TSR heißen zwar auch Nobelpreisträger für die richtige Bezugsgröße für Bonuszahlungen. Ich sehe das differenzierter: Der Fondsmanager wird maßgeblich nach der Performance bezahlt, also danach, ob er einen Index schlägt. Diese Anreizstruktur sorgt dafür, dass der Fondsmanager sein eigenes Incentive-Modell auf das Management eines Unternehmens überträgt. Deshalb plädiere ich für Transparenz und Diskussionsmöglichkeiten, doch die Entscheidung über das Vergütungssystem muss beim Aufsichtsrat bleiben.- Reagieren die Aufsichtsräte auf die öffentliche Kritik?Kramarsch: Kaum ein anderes Thema hat über die vergangenen Jahre so viel Zunahme an Aufmerksamkeit in Aufsichtsräten erfahren. An Gegenständen wie Vergütung, Nachfolgeplanung oder Ausstiegskonditionen machen sich so viele Fragen der Governance fest, dass der Aufsichtsrat hochsensibel geworden ist. Das trifft zumindest für große Unternehmen zu, sickert aber zeitverzögert in kleinere Gesellschaften durch. Das Thema Vergütung ist einzigartig. Denn außerhalb dieser Materie arbeiten Vorstand und Aufsichtsrat Hand in Hand im Unternehmensinteresse. In der Festlegung der Gehälter stehen sich beide dagegen als Vertragsparteien gegenüber. Damit bekommt das Thema Unabhängigkeit in dieser speziellen Situation besonderes Augenmerk. Deshalb interessieren sich die Investoren auch so sehr dafür.- Stellen die Aufsichtsräte inzwischen die Komplexität der Vergütung grundsätzlich in Frage?Kramarsch: Überall dort, wo Systeme neu konzipiert werden, versucht man Komplexität abzubauen. Es ist jedoch ein Irrglaube, dass man Vergütung über Detailregulierung in den Griff bekommt. Das ist meine tiefste Überzeugung nach 20 Jahren Beschäftigung mit dem Thema. Das zeigt sich in der Bankenregulierung. Rund 200 Seiten Guidelines der Europäischen Bankaufsichtsbehörde (EBA) haben nicht zu den Effekten geführt, die Politik und Regulator im Kopf hatten.—-Das Interview führte Sabine Wadewitz.