Peter Liggesmeyer, Fraunhofer IESE

„Industrie 4.0 ist nichts, was man aussitzen kann“

Die industriellen Revolutionen der vergangenen Jahrhunderte wurden stets mit technologischen Innovationen auf den Weg gebracht. Nun setzen Unternehmen seit einiger Zeit auf das Internet der Dinge – und haben dabei noch einiges vor sich, wie Peter Liggesmeyer vom Fraunhofer Institute for Experimental Software sagt.

„Industrie 4.0 ist nichts, was man aussitzen kann“

Rothbart.
Karolin

Herr Liggesmeyer, vor elf Jahren wurde der Begriff Industrie 4.0 von der Hannover Messe aus erstmals in die Welt getragen. Sie beschreiben das dahinterliegende Ziel als Abkehr von der Massenproduktion hin zur individualisierten Fertigung zum Preis eines Massenprodukts. Was genau ist damit in der Praxis gemeint?

Das Ganze lässt sich gut am Beispiel der Möbelindustrie erklären. In der vorindustriellen Zeit haben Kunden mit Tischlern abgesprochen, was für ein Möbelstück sie sich wünschen. Das wurde dann mit großem Aufwand handwerklich und individuell angefertigt ¬- und war entsprechend teuer. Später kamen über die verschiedenen industriellen Revolutionen die Massenprodukte ins Geschehen. Die Individualität ist dabei zum Großteil zugunsten von vorgefertigten, konfektionierten Möbeln aufgegeben worden. Das, was wir heute sehen, ist eine Rückkehr zur Individualität der vorindustriellen Zeit, aber zu den Konditionen der Indus­triezeit. Die individuellen Möbelstücke sollen zu günstigen Preisen und in ausreichender Menge gefertigt werden. Das gelingt mit den technischen Hilfsmitteln der Industrie 4.0 – also zum Beispiel Roboter, Digitalisierung und künstliche Intelligenz.

Unternehmen stellen bei der Diskussion zum Thema Industrie 4.0 heute oftmals den Nachhaltigkeitsaspekt in den Vordergrund. Das scheint dann aber eher ein schöner Nebeneffekt zu sein?

Natürlich ist Nachhaltigkeit ein Thema, das durch Industrie 4.0 unterstützt werden kann. Ich bin überzeugt, dass Industrie 4.0 auf Nachhaltigkeit, Energieeffizienz und auf Resilienz einzahlen wird. Denn um individuelle Produkte fertigen zu können, braucht es eine vernetzte Produktionsumgebung. Die Vernetzung hilft gleichzeitig, um zum Beispiel Energieverbräuche zu optimieren. Die Firmen können verstehen, was mit ihren Maschinen passiert, weil sie sie kontaktieren und abfragen können. Das gilt auch für die Erhöhung der Produktivität. Sie können herausfinden, dass Maschinen besonders hohe Stillstandzeiten haben, und können diese dann beseitigen, indem sie zum Beispiel Abläufe umplanen. Das sind aber alles zusätzliche Effekte.

Wie würden Sie denn den aktuellen Stand der Umsetzung von Industrie 4.0 beschreiben?

Die meisten Unternehmen sind nach meiner Definition noch nicht wirklich bei Industrie 4.0 angekommen. Wir haben aber bestimmte Grundlagen geschaffen. Die Vernetzung ist auf horizontaler Ebene weitgehend umgesetzt, also zum Beispiel in den Werkshallen zwischen den Maschinen, aber auch vertikal vom Auftragseingang bis runter in die Werkshalle. Es sind auch schon bestimmte Vorteile erschlossen worden, also Qualitätssicherung, Erfassung von Produktivitätsdaten et cetera. Was noch nicht in vollem Maße erschlossen ist, sind die Möglichkeiten der Geschäftsmodelle. Es geht um die Frage: Wie kann man aus der Vernetzung ein zusätzliches Geschäft generieren? Ich bin überzeugt, dass manch ein Besitzer eines kleinen oder mittelgroßen Unternehmens eher noch darüber grübelt, ob sich mit einer Investition in eine neue Industrie-4.0-geeignete Maschine wirklich auch ein entsprechend interessantes Geschäftsmodell erschließt.

Wie lässt sich das denn am besten herausfinden?

Ich glaube, dass das Geschäft mit individualisierten Produkten nicht für jeden gleich attraktiv ist. Das Standardbeispiel, das im Zusammenhang mit Industrie 4.0 immer wieder genannt wird, ist die Automobilindustrie. Dort existiert aus meiner Sicht aber schon sehr viel Individualität. Wenn Sie heute ein Auto kaufen, gehen Sie in den Konfigurator eines Herstellers, und da werden Ihnen zig Optionen angeboten. Hier glaube ich persönlich nicht, dass sich durch noch mehr Individualität ein noch stärkerer Kaufanreiz bildet. Man muss daher überlegen, wo es wirklich einen entsprechenden Bedarf gibt. Für diejenigen, die das nicht tun, kann das gefährlich sein. Wenn ein Unternehmen ein individualisiertes Produkt anbieten kann für einen Markt, auf dem das gefragt ist, und das zum gleichen Preis des konkurrierenden Massenprodukts, dann ist das Massenprodukt ab diesem Tag unverkäuflich. Es ist also nichts, was man aussitzen kann.

Wenn nun aber ein Mittelständler den Bedarf in seinem Markt sieht – wie löst er dann das Finanzierungsproblem?

Es gibt hier in der Industrie vor allem die Idee, Dienste anzubieten und diese nutzungsbasiert abzurechnen. Man könnte sagen, dass der Unternehmer die Maschine vielleicht gar nicht kaufen muss. Wenn er nur für die Nutzung bezahlt, also für das Stück, das gefertigt und am Ende auch verkauft wird, dann ist das Risiko am Ende für ihn reduziert. Für Investoren wie Banken oder Fonds gibt es die Möglichkeit, solche Maschinen als Anlagemöglichkeit zu beschaffen und an Unternehmen zu verleihen. Der Hersteller der Maschine findet so zugleich einen neuen Absatzmarkt. Das setzt aber voraus, dass die Bank am Ende auch sehen kann, was genau mit der Maschine gemacht wird, um exakt abrechnen zu können. Außerdem wird sie sich einen Überblick verschaffen wollen, wie die Maschinen genutzt werden, wo es besser und wo es schlechter läuft. Das geht mit den Technologien von Industrie 4.0.

Wie steht Deutschland im Vergleich zu anderen führenden Industrienationen bei der Umsetzung des Konzepts da?

Unsere Hauptkonkurrenten in der Angelegenheit sind Asien – insbesondere China – und die USA. Die USA sind aber stärker deindustrialisiert als Europa und insbesondere Deutschland. Die Kombination aus Engineering-Kompetenz einerseits und IT-Kompetenz andererseits, die finden Sie eher in Europa und besonders in Deutschland. Tatsächlich ist es so, dass wir im Engineering schon sehr gut sind und hier gegenüber den USA einen Vorsprung haben. Wir müssen aber überlegen, wie wir die IT-Seite noch besser hinbekommen. Ich glaube, dass die USA uns wiederum an dieser Stelle ein Stück voraus sind. In Asien wird letztendlich einfach sehr viel Geld in die Technologien reingepumpt. Das ist sicherlich eine Bedrohung, weil es Geschwindigkeit erzeugt. Aber im Moment sehe ich uns da durchaus noch gut positioniert.

Es wird immer wieder davor gewarnt, dass der Mangel an Fachkräften die Transformation der hiesigen Industrie auszubremsen droht. Welchen Beitrag leistet aus Ihrer Sicht die Wissenschaft, um Deutschlands Nachwuchs fit für den Wandel zu machen?

Ich glaube, dass die Inhalte zum Thema Industrie 4.0 in den Universitäten heute schon gut abgedeckt werden. Es gibt viele Lehrinhalte zu den Kernthemen von Industrie 4.0 – dabei ist auch ein Zusammenwachsen von Disziplinen zu beobachten. Studiengänge, gerade in der Technik, waren ja traditionell zumeist in Säulen organisiert. Es gab also die Maschinenbauer, die Elektrotechniker, die Informatiker, und die vermittelten jeweils ihre Lehrinhalte, und damit war es dann auch gut. Das ist aber heute im Wesentlichen Vergangenheit. Wir sehen viele interdisziplinäre Studiengänge. Das ist wichtig, denn Industrie 4.0 ist natürlich auch interdisziplinär. An der Technischen Universität in Kaiserslautern betreiben wir zum Beispiel seit Jahren einen Studiengang zur Nutzfahrzeugtechnologie. Das ist eine Kombination aus den drei oben genannten Fachrichtungen.

Wie stark ist denn der Zulauf?

Der Studiengang ist unglaublich gut gebucht. Wir haben immer so um die 400 bis 500 Bewerber auf 30 bis 60 Studienplätze. Man muss aber dazu sagen: Es sind im Wesentlichen Bewerber aus dem Ausland. Es scheint so zu sein, dass in den Köpfen der deutschen Studierenden immer noch „ihre“ Disziplin das wichtigste Mittel zur Orientierung ist. Also wenn ich einen Bachelor in Maschinenbau studiert habe, dann setze ich danach lieber noch einen Master in Maschinenbau obendrauf. Bei der großen Gruppe von Indern, die sich bei uns im Studiengang befindet, ist das offensichtlich anders. Da sind sehr viele, die einen Bachelor in Maschinenbau haben und bei uns den Master machen. Das Interessante ist, dass sehr viele dieser ausländischen Studierenden mit dem festen Vorsatz kommen, nach dem Master wieder zurückzukehren in ihre Heimatländer, um Karriere zu machen. Viele geben diesen Vorsatz aber später auf und bleiben für eine gewisse Zeit oder auch ganz. Das ist für uns natürlich auch eine Möglichkeit, dem Fachkräftemangel entgegenzutreten.

Als weiteren Hebel fordern Beobachter auch regelmäßig, das Problem schon in den Schulen anzugehen und dort das Interesse junger Leute für MINT-Fächer zu stärken. Sehen Sie das auch so?

Ich denke manchmal, dass die Schulen ein bisschen spät damit beginnen, auf die Berufswahl vorzubereiten. Es gibt natürlich immer die Orientierungen kurz vor dem Abitur. Aber da ist schon sehr viel passiert, und bestimmte Meinungsbilder haben sich in den Köpfen der jungen Leute verfestigt. Es ist leider nach wie vor so, dass immer noch zu wenig Frauen Informatik studieren. Ein bundesweit eigenständiges Pflichtfach Informatik wäre hier natürlich gut. Aber es muss dann richtig umgesetzt sein und darf nicht darum gehen, mit einem Textverarbeitungsprogramm Texte zu schreiben und mit Powerpoint Folien anzufertigen. Das sind natürlich keine sinnvollen Inhalte eines Schulfachs Informatik. Es müssen stattdessen frühzeitig, also am besten noch in der Grundschule die Grundlagen der Informatik vermittelt werden – auf spielerischem Wege, so wie beim Schreiben und Rechnen. Dann hätten sicher auch Schülerinnen weniger Berührungsängste bei dem Thema.

Welchen Ländern gelingt es denn aus Ihrer Sicht besser, junge Frauen an die Informatik heranzuführen?

Skandinavien wird in dem Bereich natürlich immer wieder als der Benchmark zitiert. Ich glaube, da ist auch etwas dran. Es gibt daneben aber noch eine andere erstaunliche Entwicklung: Die große Fraktion der bei uns studierenden Inder teilt sich fast eins zu eins in Frauen und Männer auf – ganz anders, als es bei den deutschen Studierenden der Fall ist. Auch in Indien selbst herrscht in den großen IT-Unternehmen vielfach schon eine bessere Gleichverteilung der Geschlechter. Das würde ich jetzt nicht zwingend auf das Bildungssystem zurückführen, sondern eher auf die Elternhäuser und darauf, dass man dort gesehen hat, wie der IT-Boom das gesamte Land gestärkt hat. Deswegen steht die IT-Industrie dort in einem sehr positiven Licht, und die Menschen wollen – unabhängig vom Geschlecht – Teil der Bewegung sein.

Das Interview führte

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.