"Investoren übernehmen die Meinungshoheit"
Herr Kramarsch, Investoren machen beim Thema Nachhaltigkeit Druck. Forciert werden sollen Ökologie und Diversity auch über Vergütungsanreize. Kann der Klimaschutz beschleunigt werden, indem ein rückläufiger CO2-Ausstoß das Gehalt des Konzernchefs erhöht?In dem Thema muss man grundsätzlich überlegen, welche Rechte und Pflichten man privaten Unternehmen in zentralen gesellschaftlichen Belangen übertragen sollte. Es ist unzweifelhaft, dass wir alles tun müssen, um den Planeten Erde als Lebensraum zu erhalten. Doch wie läuft die Konsensbildung zu gesellschaftspolitischen Themen wie Klimaschutz und Diversität ab? Was im Gesetz steht, ist demokratisch legitimiert. Adressiert es der Corporate Governance Kodex, hat es im Regierungsauftrag einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Investoren bilden sich ihre eigene Meinung. Gesellschaftliches Einvernehmen können Sie in Themen wie Klimaschutz und Diversität kaum in Abrede stellen?Über die letzten Jahre hat sich leider eingebürgert, dass Investoren die Meinungshoheit über solche Ziele übernehmen. Internationale Abkommen zum Klimaschutz oder der UN Global Compact setzen doch einen legitimierten Rahmen für Ökologie und Menschenrechte.Das stimmt. Ich unterstütze es voll und ganz, Missstände zu bekämpfen und Nachhaltigkeit zu fördern. Doch es bleibt die Frage, wer mit welchen Mechanismen, welchen Incentives und welcher Motivation darüber entscheidet, was zu tun ist. Der Assetmanager State Street zum Beispiel will von 2022 an gegen den Vorsitzenden des Nominierungsausschusses stimmen, wenn im Board des Unternehmens kein Vertreter einer Minderheit sitzt. Das geht tief in ein gesellschaftspolitisches Verständnis hinein. Aus meiner Sicht sind Investoren gut beraten, wenn sie nicht nur der Redensart folgen: Wer zahlt, schafft an. Sie sollten sich eine andere Legitimation als ihren flüchtigen Besitz von Aktien verschaffen. Basisdemokratie für Investoren?Vom International Corporate Governance Network, über Assetmanager, große Fondsgesellschaften bis zu den namhaften Stimmrechtsberatern ist es eine überschaubare Zahl an Personen, die hier die Standards setzen. Bei aller guten Motivation dieser Investorenvertreter muss man fragen, ob dies der richtige Weg ist, um gesellschaftspolitisch relevante Themen in die Unternehmen und deren Zielsetzung zu tragen. Assetmanager und Investmentfonds vertreten aber doch eine Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen, darunter Pensionsfonds?Das ist die permanent behauptete fiduziarische Pflicht der Investoren. Mir ist nicht bekannt, dass auch nur ein einziger Pensionsfonds jemals seine Rentner oder Geldgeber zu diesen Themen befragt hat. Wenn ein Assetmanager seine Policy erstellt, befragt er niemanden – allenfalls seine Geldgeber, aber nicht die Personen, die am Ende der Kette stehen. Investoren behaupten, ihre Richtlinien basierten auf einer Mehrheitsmeinung, diese wird aber nicht eingeholt. Ich kann nur an Assetmanager und Fonds appellieren, ihre Meinung an anderer Stelle zu entwickeln und abzusichern als im stillen Kämmerlein. Glauben Sie, Investoren würden dann grundlegend andere ESG-Standards von Unternehmen einfordern, als sie es bislang tun?Wir lassen uns in der Diskussion davon täuschen, dass die ESG-Sicht die überwältigende Sicht der Investorengemeinde sei. Beim kalifornischen Pensionsfonds Calpers hat sich vor einiger Zeit nach heftigen internen Diskussionen über Nachhaltigkeit oder Rendite die Fraktion durchgesetzt, die Ertrag in den Vordergrund stellt. Das ist eine Ausnahme, zeigt aber, dass es nicht nur eine Meinung gibt. Es ist durchaus die Ansicht zu finden, dass es primär auf die finanzielle Performance ankommt, natürlich verknüpft mit einer “licence to operate”, also gesellschaftlicher Akzeptanz. Setzt sich nicht zunehmend die Einschätzung durch, dass nur ein nachhaltig ausgerichtetes Unternehmen eine gute finanzielle Performance bringt?Das stimmt auch, doch man sollte es differenzierter betrachten als die Checklisten, die BlackRock & Co. für ihre Zigtausend Beteiligungen einsetzen. Nicht für jedes Unternehmen muss es sinnvoll sein, Nachhaltigkeitsziele stärker zu gewichten als finanzielle Ziele, zumal Letztere eindeutiger messbar sind. ESG-Ziele müssen unternehmensspezifisch gesetzt werden, ein Gesundheitskonzern hat andere Themen als ein Energieversorger. Werden Aufsichtsräte durch standardisierte ESG-Anforderungen der Investoren wirklich behindert, unternehmensspezifische Anreizsysteme zum Beispiel für die Vorstandsvergütung zu etablieren?Nehmen wir CO2. Für manche Unternehmen und Geschäftsmodelle ist dieses Ziel schlicht nicht relevant. Da es die Investoren einfordern, setzen Aufsichtsräte eine CO2-Reduktion aber trotzdem als Unternehmensziel. Wir beobachten eine Evolution. Lange Zeit spielten nichtfinanzielle oder Nachhaltigkeitsziele keine Rolle in der Vorstandsvergütung. Jetzt gibt es Blaupausen mit ESG-Ratings und Sustainability-Indizes. Es wird sich deutlich spezifischer weiterentwickeln, um das jeweilige Geschäftsmodell zu spiegeln. Das goutieren Investoren grundsätzlich auch, die unternehmensindividuelle Betrachtung fordert ihnen jedoch Ressourcen ab. Was bedeutet das für den Aufsichtsrat, der unter diesen Rahmenbedingungen die Vorstandsvergütung festzulegen hat?Er soll es transparent und leistungsorientiert machen, Finanzziele festlegen, Stakeholder-Ziele einbauen, Aktienhaltepflichten verankern sowie Malus- und Clawback-Regeln festlegen – und einfach soll das Ganze dann auch noch sein. Investoren und andere Beteiligte sollten sich hier mal an die eigene Nase fassen, wenn im Moment versucht wird, jedes gesellschaftliche Ziel über die Vorstandsvergütung zu kanalisieren – von Frauenquote bis CO2-Reduktion. Ist es überhaupt sinnvoll, einen Vorstand dafür zu belohnen, dass er Ziele erreicht, die ihm sowieso politisch vorgegeben sind?Wenn ein Aufsichtsrat einen Vorstand dafür vergütet, dass er gesetzliche Ziele erfüllt, hat er Sinn und Zweck eines Vergütungssystems nicht verstanden. Doch ich bin fast 30 Jahre im Geschäft und immer noch erstaunt, dass man teilweise Selbstverständlichkeiten in die Vergütungsziele schreiben muss. Wenn es im Vergütungsbericht erscheint und die Bezahlung daran hängt, zählt es eine Führungskraft plötzlich zu ihren Aufgaben. Das ist die Realität?Es ist, Gott sei Dank, nicht überall die Realität, aber immer noch relativ häufig zu beobachten. Es wird ja auch gerne behauptet, Vergütungen seien so komplex, dass die Vorstände selbst ihr Gehalt nicht verständen. Meine Erfahrung sieht anders aus. Sobald etwas im Vergütungssystem steht, wissen Manager sehr genau, was zu tun ist – auf mystische Weise werden plötzlich lange geforderte Dinge im Unternehmen umgesetzt. Ein ähnliches Phänomen sieht man bei Versuchen, Vorstandsverträge zu ändern. Dann kennen die Betroffenen überraschend doch ihre Vertragsdetails und legen in Berechnungen mit zwei Nachkommastellen dar, ob es besser oder schlechter wird. Was raten Sie Aufsichtsräten für die Auswahl von Nachhaltigkeitszielen für die Vorstandsvergütung?Ein Aufsichtsrat sollte ESG-Ziele nicht nur für die Vorstandsvergütung einsetzen. Er sollte einfordern, dass im Konzern ein mit Kennzahlen ausgestattetes, breites unternehmensspezifisches ESG-Steuerungssystem etabliert wird und laufend darüber berichtet wird. Wie konkret müssen ESG-Ziele in der Vergütung gefasst sein?Genau so konkret wie Finanzziele, also rechnerisch ermittelbar. Ein Nachhaltigkeitsziel wird erst relevant, wenn es messbar ist. Das verlangen auch die Investoren. Da zeichnet sich eine spannende Diskussion ab, denn bislang ist es nach meiner Kenntnis in der Praxis noch nicht vorgekommen, dass ESG-Ziele in der Vorstandsvergütung nicht zu mindestens 100 % erreicht wurden. Das deutet darauf hin, dass die Latte nicht gerade hoch gelegt wird. Das werden die Investoren nicht dauerhaft akzeptieren. Wer in die neu formulierten Vergütungssysteme schaut, stößt auf Auffälligkeiten. So heißt es bei Siemens Healthineers: Für aus dem Ausland bestellte Vorstände könnte eine höhere langfristige variable Vergütung LTI festgelegt werden. Ist so ein Zwei-Klassen-System üblich?Nein. Es adressiert aber ein Problem, das mit verstärkter internationaler Besetzung von Gremien entstanden ist. Die angesprochenen Personen bringen die Vergütungserwartungen ihrer Heimatmärkte mit. Schon heute ist es schwierig, einen Amerikaner für einen deutschen Aufsichtsrat zu gewinnen, weil er andere Vergütungen gewohnt ist. Das Gleiche gilt für Vorstände. Das neue rechtliche Regime nach Arug II erschwert solche Flexibilität für den Aufsichtsrat deutlich, einen Blankoscheck für den Aufsichtsrat gibt es nicht mehr. Es gibt auch den Passus, dass Manager bei erstmaliger Bestellung in den Vorstand eine niedrigere Bezahlung bekommen. Ist solch ein Anfänger-Malus verbreitet?Da treffen sich zwei Gedanken. Auf der einen Seite haftet jeder Vorstand uneingeschränkt für alles, was das Gremium insgesamt entscheidet. Insofern hat man nach der Bestellung keine Zeit, den Beruf des Vorstands erst zu erlernen. Auf der anderen Seite bekommt man unterhalb des Vorstands bei Beförderungen auch nicht gleich ein Vielfaches der bisherigen Vergütung, sondern das Gehalt steigt kontinuierlich über die Jahre. Der Aufstieg in den Vorstand hat aber doch eine andere Qualität?Vergütungstechnisch gesprochen ist die Ernennung zum Vorstand nach wie vor der Karriere-Lottogewinn mit einem Gehaltssprung, der in dieser Höhe an keiner anderen Stelle im Unternehmen möglich ist. Diese zwei Seiten einer Medaille führen dazu, dass manche Unternehmen für die Erstbestellung eine Eingangsstufe definieren, so dass neue Vorstände zum Beispiel in den ersten drei Jahren eine niedrigere Vergütung erhalten als ihre langjährig aktiven Kollegen. Die Umsetzung in der Praxis ist allerdings nicht ganz einfach. Die meisten Unternehmen müssen 2021 neue Vergütungssysteme zur Abstimmung stellen. Wird es angesichts des zunehmenden Anteils von Long Term Incentives Debatten geben, weil Pandemieeffekte die Gehälter kurzfristig nicht signifikant drücken?Die Hauptversammlungssaison 2021 wird die aufregendste seit Langem. Das heißeste Thema Vorstandsvergütung ist flächendeckend auf der Agenda. Bei den neuen Systemen geht es nicht vorrangig um Zahlen, sondern um Kennzahlen und Mechanik. Vor den Aktionärstreffen laufen aber bereits die 2020 gezahlten Gehälter über die Nachrichtenticker – vermutlich parallel zu News über Insolvenzen und Stellenabbau. Es zeichnet sich ab, dass in einem Pandemieszenario Millionengehälter von Vorständen veröffentlicht werden. Wir werden einen Spread sehen wie noch nie. Nicht vergleichbar mit der Situation nach der Lehman-Pleite 2008/2009?In der Finanz- und Wirtschaftskrise sind mehr oder weniger alle Unternehmen betroffen gewesen, die Vergütungen sind in den Krisenjahren um ein Fünftel gesunken. Dieses Jahr werden wir bei einzelnen Unternehmen Bonusausfall und Gehaltskürzungen sehen, bei einigen Konzernen jedoch Rekordvergütungen. Das Interview führte Sabine Wadewitz.