IT-Kräfte verlassen Russland in Scharen
Von Eduard Steiner, zzt. Wien
Wenn stimmt, was Sergej Plugotarenko Ende März im russischen Parlament dargelegt hat, dann brennt der Hut. Durch den Ukraine-Krieg nämlich laufen dem Land die besten Leute davon. Und das bei weitem nicht nur vereinzelt. Nein, sie gehen in Scharen.
„In einer ersten Welle sind bereits 50 000 bis 70 000 Personen emigriert“, und zwar allein Spezialisten aus dem Bereich Internettechnologie, sagte Plugotarenko, Chef der russischen Vereinigung für digitale Kommunikation (RAEK), in der Duma-Ausschusssitzung. Die zweite Welle werde nur dadurch verzögert, dass Tickets und Wohnen teuer geworden seien, niemand auf die Russen im Ausland warte und die Finanzverbindungen für Geldtransaktionen abgebrochen worden seien. „Aber die zweite Welle wird sicher kommen. Im April werden unserer Prognose zufolge 70 000 bis 100 000 Personen emigrieren, und zwar allein IT-Personal.“
Eine neue Welle des Braindrain hat also begonnen. Im IT-Bereich, in dem Russland – wie die Ukraine und Weißrussland – eine beachtliche Szene entwickelt hat, fällt er einfach besonders auf. „Herden von IT-Personal“ hätten in den vergangenen Wochen dem Land den Rücken gekehrt, sagte niemand Geringerer als Natalja Kasperskaja, Mitbegründerin des Antivirenspezialisten Kaspersky und heute Chefin des Datenschutzanbieters Infowatch.
Dass Russland – wie viele Schwellenländer – ganz generell mit einem Braindrain zu kämpfen hat, ist nicht neu. Zwischen 60 000 und 80 000 Personen seien im vergangenen Jahrzehnt pro Jahr in den Westen – sprich in Länder außerhalb von Russlands GUS-Nachbarstaaten – gegangen, erklärte Michail Denisenko, Direktor des Instituts für Demografie an der Moskauer Higher School of Economics, im Vorjahr im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Als Hauptmotiv wurden immer der Mangel an wirtschaftlichen Möglichkeiten und die Attraktivität des Westens genannt.
Heute, sieben Wochen nach Kriegsbeginn, wird zunehmend deutlich, dass nicht nur die Zahl der ausreisenden Russen nach oben geschnellt ist. Es wird immer klarer, dass sich neben den Zielländern auch die Motive für die Emigration geändert haben.
Reputationsrisiko
Wie diese aussehen, hat kürzlich das russische Online-Wirtschaftsmedium „The Bell“ in einer Dokumentation über den IT-Sektor namens „One-Way-Ticket“ eruiert. Mit Kriegsbeginn – so erklärt dort Konstantin Sinjuschin, Mitgründer des Investitionsfonds The Untitled Ventures – sei es unmöglich geworden, von Russland aus für den internationalen Markt zu arbeiten. Da sei zum Beispiel das Reputationsrisiko: Ausländische Unternehmen, und zwar nicht nur europäische, sondern auch asiatische, würden plötzlich nicht mehr mit russischen Dienstleistern arbeiten. Es bestehe nicht nur die Angst, Aufträge zu verlieren, sondern von Zulieferern boykottiert zu werden, sagt Andrej Makejew, Gründer des Marketplace Flowwow.
Abgesehen von dem Unwillen und der Weigerung ausländischer Auftraggeber, Geld nach Russland zu überweisen, sei inzwischen auch unklar geworden, wie sie und potenzielle Investoren angesichts der Finanzsanktionen technisch Geld nach Russland überweisen können, so Sinjuschin. Dazu komme das Risiko, dass die russischen Behörden das Internet abdrehen könnten.
Es sind nicht nur die russischen Dienstleister, die mehr Perspektiven im Ausland sehen. Es sind natürlich auch westliche IT-Unternehmen, die ihre Niederlassung in Russland zurückfahren und teilweise eine Übersiedelung ihres russischen Personals ins Ausland sogar finanzieren.
Weil der Braindrain die russische Industrie und die Wirtschaft insgesamt zerstöre, wie es ein Vertreter der dortigen Industriekammer neulich formulierte, will der Staat mit einer Fülle schneller Maßnahmen dagegenhalten. Bereits in den ersten Wochen des Krieges verdoppelte er in vielen IT-Segmenten die staatlich ausgeschriebenen Stellen. Am meisten gefragt sind Spezialisten, die einheimische digitale Lösungen anstelle der ausländischen entwickeln und implementieren.
Es ist ein Wettbewerb mit den Wendigsten in der IT-Szene selbst, die längst dazu übergegangen sind, sich untereinander zu vernetzen und Ausreisewillige bei ihrem Neustart im Ausland zu beraten. Der Staat seinerseits ködert die Spezialisten nicht nur mit diversen Steuerbefreiungen auf drei Jahre und Zuschüssen bei Wohnungskrediten. Er lockt sie auch mit der eher untypischen Zusage, sie für die ganze Zeit der Arbeit im IT-Sektor vom Militärdienst zu befreien.
Flugtickets teuer geworden
Gerade die Angst, eingezogen und in den Krieg geschickt zu werden, ist seit Wochen eines der Hauptmotive bei jungen Männern, sich ins Ausland abzusetzen. Nicht zufällig sind die Preise für Flugtickets in die Türkei, nach Armenien, Serbien, Montenegro, in die zentralasiatischen Nachbarstaaten, nach Dubai oder Israel förmlich explodiert. Die aufgezählten Staaten sind solche, in die Russen noch relativ einfach einreisen können. Und es sind Länder, in denen das Leben und der Aufbau einer neuen Firma auch für Russen noch relativ erschwinglich sind.
Russische Emigranten würden derzeit vor allem in Länder reisen, für die sie kein Visum brauchen, sagen Experten. Und wo es leichtere Coronabestimmungen gebe als in Westeuropa. Ebendort haben infolge des Krieges auch Länder, die bei der Vergabe von Staatsbürgerschaften gegen Investitionen besonders großzügig waren, ihre Programme für Russen zurückgefahren. Und ebendort kommen derzeit ohnehin Millionen von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine an. Dass darunter auch viele Fachkräfte aus der starken ukrainischen IT-Szene sind, war insgeheim eine Erwartung westlicher Unternehmen. Die Hoffnung dürfte überzogen gewesen sein. Wie der russische IT-Sektor, so besteht auch der ukrainische vor allem aus Männern. Und diese sind bis auf Weiteres gezwungen, ihre Heimat zu verteidigen.