Italiens Chinatown in der Toskana steht still
Von Gerhard Bläske, MailandDie Industriestadt Prato in der nördlichen Toskana ist das größte Textilzentrum Europas. Doch mehr als 90 % der Produktion stehen still. Zwei Drittel der 6 300 Betriebe der Textil- und Modebranche der Provinz Prato sind in chinesischer Hand. Sie haben meist schon lange vor dem Ende März verordneten Produktionsstopp für den Großteil von Italiens Industrie geschlossen.Offiziell leben in Prato 25 000 Chinesen. Inoffiziell sind es 60 000, mehr als irgendwo sonst in Italien. Sie nähen, stricken und produzieren in einem der 4 000 meist sehr kleinen chinesischen Unternehmen. Viele sind illegal hier, haben keine Krankenversicherung, sind nicht gemeldet und schlafen in dunklen, engen Lagerräumen oder Werkstätten.Sie fertigen nicht für große Namen wie Armani oder Prada. Sie stehen für Billigmode, Pronta Moda (schnelle Mode), die zu Spottpreisen unter dem “Made in Italy”-Siegel verkauft wird. “Die chinesischen Unternehmen sind in anderen Segmenten tätig als die italienischen”, sagt Andrea Cavicchi, Präsident des Branchenverbands der Textilindustrie in der nördlichen Toskana: “Sie produzieren Billigstware.” Insgesamt kommen die 6 300 Unternehmen der Textil- und Modebranche der Provinz Prato mit fast 40 000 Beschäftigten auf einen Umsatz von 7,5 Mrd. Euro, davon 2,6 Mrd. Euro im Export.Die Chinesen wurden zunächst verdächtigt, Urheber der Pandemie zu sein, weil 2 000 von ihnen zum chinesischen Neujahrsfest in der Heimat waren. Doch Cavicchi schließt das zumindest für Prato aus. “Viele Chinesen sind schon Ende Januar in eine freiwillige Quarantäne gegangen. Die haben das Problem früher erkannt als wir. Bisher gab es in der chinesischen Community in Prato nicht einen Coronavirus-Fall. In Prato gibt es viel weniger Fälle als in der restlichen Toskana und im restlichen Italien.” Trotzdem schlossen die Betriebe frühzeitig – ähnlich wie in der Mailänder Chinatown um die Via Paolo Sarpi, wo Restaurants, Elektronikläden und Kleidungsgeschäfte ebenfalls schon lange zu sind.Die Epizentren der Pandemie liegen um Bergamo und Brescia in der Lombardei, in der Emilia-Romagna um Piacenza und in Venetien. Es gab einen regen Austausch zwischen den vielen italienischen Mittelständlern dieser Regionen und China. Chinesen haben stark investiert, halten die Mehrheit an Pirelli und Pininfarina, Beteiligungen an Fiat Chrysler, TIM, Eni, Enel und der HVB-Mutter Unicredit, haben in die Häfen von Triest und Genua investiert und kontrollieren den Fußballclub Inter Mailand. 2019 kamen 20 % mehr Touristen aus China. 2020 sollten es mehr als vier Millionen werden.Die Textilunternehmen in Prato haben nicht nur Liquiditätsprobleme. Cavicchi, der zwei Firmen leitet und 30 Mitarbeiter hat, fürchtet, “dass sich unsere Kunden andere Lieferanten suchen, vor allem in der Türkei und in China, wo produziert wird”. Bis zu 40 % der Unternehmen könnten pleitegehen. Sie haben keine Einnahmen mehr, müssen aber Mieten, Beschäftigte und Lieferanten bezahlen. “Die Produktion muss dringendst wieder aufgenommen werden. Es dauert zu lange, bis die von der Regierung beschlossenen Liquiditätshilfen bei uns ankommen. Wenn wir die Winterkollektion jetzt nicht produzieren und ausliefern können, dann ist sie verloren für uns. Doch auch die Geschäfte müssen wieder öffnen, denn sie sind ein wichtiger Teil unserer Branche.” “Qualitätssprung”Lorenzo Magnolfi, Professor an der Universität Wisconsin-Madison, führt den Erfolg der Chinesen darauf zurück, dass sie dynamisch, arbeitsam, opferbereit und genügsam seien. Italiener könnten bei Billigprodukten nicht konkurrieren. Es brauche einen Qualitätssprung, Firmen, die investieren und Innovationen hervorbringen. “Die Lohnkosten sind zu hoch und die Produktivität zu niedrig. Wir müssen besser arbeiten.”