Keine Experimente im öffentlichen Nahverkehr
Die Elektrifizierung des öffentlichen Nahverkehrs steht seit 2009 auf der politischen Agenda. Fahrt nahm das Thema mit dem VW-Abgasbetrug auf, der die Diskussion um die Luftqualität in Städten befeuerte. Eine große Hürde ist die Finanzierung und das bisher überschaubare Angebot an serienreifen E-Bussen.Von Isabel Gomez, Stuttgart Langsam hat sich in Stuttgart die Aufregung um den X1er gelegt. Seit Oktober verkehrt die Schnellbuslinie zwischen der Innenstadt und dem Stadtteil Bad Cannstatt. Sie wurde eingeführt, um auf der Strecke den Individualverkehr und so die Emissionen einzuschränken. Die Stuttgarter spotten seither über den Geparden-Look der Busse und die viele Luft zwischen den wenigen Fahrgästen. Hauptsächlich beschäftigte sie aber schon vor der Einführung die Frage: “Warum sind das eigentlich keine Elektrobusse vom Daimler?”Zehn Gelenkbusse hat die Stuttgarter Straßenbahn (SSB) für die Linie gekauft. Insgesamt wurden 2,5 Mill. Euro investiert. Fünf Gelenkbusse kommen von Volvo, fünf von Mercedes. Es sind Hybride, weil man für einen rein elektrischen Gelenkbus noch eine Weile brauche, heißt es bei Daimler. Zwischen 2020 und 2022 will Mercedes die ersten davon für Testfahrten an die SSB liefern. Verdoppelte FörderungDie Elektrifizierung des öffentlichen Nahverkehrs steht seit 2009 auf der politischen Agenda. Fahrt nahm das Thema mit dem VW-Abgasbetrug auf, der zum branchenweiten Skandal wurde und die Diskussion um die Luftqualität in Städten befeuerte. 65 Städte überschreiten den EU-Grenzwert für Stickstoffdioxid von 40 Mikrogramm je Kubikmeter Luft im Jahresmittel. 14 Städte liegen über 50 Mikrogramm. In vielen davon gelten ab Januar Fahrverbote für ältere Dieselfahrzeuge. Ab Mitte 2019 könnten Verbote für neuere Diesel der Abgasnorm Euro 5 dazukommen.Um das zu verhindern, erweiterte die Bundesregierung im Oktober ihr Maßnahmenpaket für Saubere Luft. Es soll dazu beitragen, die Treibhausgasemissionen des Verkehrs, wie nach dem Pariser Klimaabkommen geplant, bis 2030 um 40 % bis 42 % gegenüber 1990 zu senken. Das aus Steuergeldern und Beiträgen der Autohersteller bis dahin mit 1 Mrd. Euro bestückte Programm wurde verdoppelt. Von einem Teil der Summe können sich Kommunen bis zu 80 % der Mehrkosten für einen alternativ betriebenen Bus sowie 40 % der Kosten für die Ladeinfrastruktur fördern lassen.Das Beratungsunternehmen PwC geht davon aus, dass der aufgestockte Topf die Elektrifizierung des ÖPNV beschleunigt. Der Verband der Verkehrsunternehmen glaubt indes nicht, dass so das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage bei E-Bussen verschwindet. Pro Jahr könnten 60 bis 70 Busse aus dem Programm gefördert werden. In den 65 belasteten Städten liege der Bedarf aber bei 1 500. Mitte 2018 waren in deutschen Städten 600 Busse mit alternativem Antrieb unterwegs. Das entspricht 1,5 % aller Stadtbusse. 99 davon fuhren batterieelektrisch ohne Oberleitung. Komplizierte Umstellung”Die Finanzierung ist noch immer eine große Hürde, auch wenn Fördergelder im System sind. Ein Elektrobus kostet nach wie vor ungefähr das Doppelte eines Dieselbusses”, sagt Maximilian Rohs, Manager Infrastructure & Mobility bei PwC. Zwar seien die laufenden Kosten niedriger, da Strom günstiger ist als Treibstoff und E-Busse weniger wartungsanfällig seien. Dennoch schrecke der hohe Anschaffungspreis ab.Busnetze als bestehende Infrastruktur an Batteriereichweiten und Lademöglichkeiten anzupassen ist der zweite Kostenfaktor und eine Herausforderung. Das Wetter beeinflusst die Batterieleistung ebenso wie geografische Gegebenheiten. Zudem gibt es unterschiedliche Ladeansätze: Über Nacht im Busdepot per Stecker, durch am Bus befestigte Stromabnehmer oder über induktive Ladezonen an Haltestellen.Der dritte Grund für die bislang schleppende Entwicklung ist das Busangebot. Nur wenige Hersteller sind mit serienreifen E-Bussen am Markt. Noch dominieren Hybride, die PwC als Übergangstechnologie sieht. Der polnische Hersteller Solaris ist hierzulande Marktführer. Neben den fünf Herstellern, die derzeit einen Marktanteil von etwa 80 % bei alternativ betriebenen Bussen haben (siehe Tabelle), gehört auch die chinesische BYD zu den führenden Anbietern. Ihre Busse fahren etwa in London, den Niederlanden und China. In Shenzhen stellte BYD Ende 2017 die Mehrzahl von insgesamt 14 000 E-Bussen. Qualmende BatterienBYD war einer der ersten Anbieter am Markt und sicherte sich viele Aufträge in Europa und den USA. Inzwischen häufen sich die Beschwerden. Etwa bei der Los Angeles County Metropolitan Transportation Authority, die seit 2015 fünf BYD-Busse betreibt. Einer davon habe plötzlich weiß gequalmt und die durchschnittliche Batteriereichweite liege bei 59 statt der versprochenen 155 Meilen, berichtete die “Los Angeles Times” im Mai. Albuquerque gab Mitte November 15 BYD-Busse zurück. Bürgermeister Tim Keller schilderte dem “Albuquerque Journal” Probleme mit der Reichweite und den Bremsen. BYD-Vertreter stritten die Probleme ab oder führten sie auf unsachgemäße Behandlung zurück. Keller bestellte neue Busse. “Niemand will einen elektrischen Bus nach unseren Spezifikationen bauen, weil alle sagen, das sei nicht möglich. Wir werden saubere Diesel oder Gas wählen und Elektromobilität einführen, wenn die Technologie so weit ist”, wird er in der Zeitung zitiert.Albuquerque ist nicht Stuttgart, aber die Probleme sind ähnlich: Sie finden keine passenden E-Busse. Von Daimler kann Tim Keller keine Hilfe erwarten, denn der Konzern hat in den USA kein Stadtbusgeschäft. Doch in Europa stehen die Chancen nicht schlecht, dass die ersten Batteriebusse von Mercedes oder MAN die Elektrifizierung des ÖPNV beschleunigen. “Die meisten Verkehrsbetriebe haben bereits jahrelange Beziehungen zu den etablierten Herstellern und warten aus diesem Grund auf deren Produkte”, so Rohs.Kritiker werfen Daimler und MAN vor, geschlafen zu haben. Die halten ihre Qualitätsversprechen dagegen. Einen liegen gebliebenen Bus oder qualmende Batterien, das könne man sich nicht leisten. MAN stellte im Herbst einen Prototypen ihres ersten elektrischen Stadtbusses Lion’s City E-Bus vor. Ab 2020 soll vor der Serienproduktion eine Demo-Flotte in europäischen Städten getestet werden. MAN verspricht eine zuverlässige Reichweite von 200 Kilometern. Bis 2030, ist MAN-Chef Joachim Drees überzeugt, würden 60 % des ÖPNV elektrisch fahren.Bei Mercedes hat die Serienproduktion des E-Citaro bereits begonnen. Das erste Exemplar wurde im November an die Hamburger Hochbahn geliefert, die 20 bestellt hat. Berlin will ebenfalls 15 Busse, die wie 15 weitere von Solaris im März in Betrieb gehen sollen. Inklusive Infrastruktur war der Auftrag der Berliner 18 Mill. Euro schwer. Per Juli 2018 haben deutsche Verkehrsbetreiber bis 2040 Bestellungen von 3 243 E-Bussen angekündigt. Viermal so viele wie 2017. 1 000 dieser Bestellungen entfallen PwC zufolge auf die nächsten fünf Jahre. Die Wahrscheinlichkeit, dass viele der Busse von MAN oder Daimler kommen werden, ist groß. Denn beide wollen nicht nur Busse verkaufen, sondern drängen auch in die Beratung. Langfristige PlanungGustav Tuschen leitet die Busentwicklung bei Daimler. Seit der E-Citaro 2013 projektiert wurde, investierte der Konzern 150 Mill. Euro in das Projekt. Weitere 30 Mill. Euro wird die Weiterentwicklung in den kommenden fünf Jahren kosten. Mercedes ist bislang der einzige Hersteller mit einer langfristigen E-Bus-Roadmap und will über Beratung “die Städte davor schützen, in ein falsches Produkt zu investieren”, wie Tuschen sagt. Es sei ja sinnlos, heute für Millionen eine induktive Ladefläche für eine Teststrecke zu bauen, weil der Bus mit einer Batterieladung nicht die gesamte Linie schafft. In wenigen Jahren schaffe ein neuer E-Bus dieselbe Strecke mit einer Ladung und die Investition in Infrastruktur war umsonst.Der E-Citaro von 2018 decke ein Drittel aller Anwendungsfälle ab, so Tuschen. Das heißt: Der Bus kann ohne Zwischenladung 30 % aller europäischen Stadtlinien befahren. Daimler garantiert eine Reichweite von 150 Kilometern “an richtig schlechten Tagen”. Unter Idealbedingungen 250 Kilometer. Ab 2020 soll eine Festkörperbatterie 250 Kilometer Reichweite und 70 % aller europäischen Stadtlinien abdecken. 2022 soll die Festkörperbatterie um eine Brennstoffzelle ergänzt werden, die über 400 Kilometer Reichweite bringe und mehr als 90 % der Strecken abdecke.Der Fünfjahresplan komme bei Kommunen und Verkehrsbetrieben gut an, erzählt Tuschens Kollege Alexander Pöschl, der die Beratung leitet. Pöschl hat vor drei Jahren mit ersten Pilotprojekten begonnen und diskutiert mit den Verantwortlichen der Verkehrsbetriebe beispielsweise, welche Linien sich wann für E-Busse eignen. Ergänzende TrainingsSein Team trainiert Busfahrer, Mitarbeiter in Depots oder in den Verkehrsleitstellen zu Hochvolttechnologie und Fahrzeugkonfigurationen. Und das Team erhebt Daten und wertet sie mit künstlicher Intelligenz aus, um mehr über das Verhalten der ersten E-Busflotten im Betrieb zu lernen und diese Erkenntnisse in die Beratung und die Weiterentwicklung der Busse einbringen zu können.Natürlich könne man einer Stadt auch einfach zehn E-Busse liefern. “Aber wenn einer davon stehen bleibt, weil die Ladeinfrastruktur nicht passt, dann fällt das auf unseren Bus zurück. Obwohl der gut ist”, so Pöschl. Ein elektrisches ÖPNV-System, das müsse eben einfach immer funktionieren. Auch um der E-Mobilität bei Pkw auf die Sprünge zu helfen. “Da gehen keine Experimente im größeren Stil.” Weil sich auch Daimler in Zeiten von Handelshürden, hohen Investitionen in den Hochlauf der E-Mobilität und in autonome Mobilitätslösungen keine Experimente leisten kann, erwartet der Vorstand auch aus der Elektrifizierung des ÖPNV irgendwann Gewinne. In “ein paar Jahren”, so Tuschen, rechne er mit dem Break-even.