Einzelhandel

„Keine Öffnungs-, sondern eine Schließungsstrategie“

Der Einzelhandel kritisiert die Beschlüsse von Bund und Ländern zur Verlängerung des Lockdowns scharf. „Es ist gestern keine Öffnungs-, sondern eine Schließungsstrategie verabschiedet worden“, sagte Hauptgeschäftsführer Stefan Genth vom Handelsverband Deutschland (HDE).

„Keine Öffnungs-, sondern eine Schließungsstrategie“

md Frankfurt

Der Einzelhandel kritisiert die Entscheidungen von Bund und Ländern zur Verlängerung des Lockdowns scharf. Es sei „keine Öffnungs-, sondern eine Schließungsstrategie verabschiedet worden“, sagte Hauptgeschäftsführer Stefan Genth vom Handelsverband Deutschland (HDE) in einem Pressegespräch. In den am Mittwoch gefassten Beschlüssen des Coronagipfels sieht der Verband einen „klaren Wortbruch“ der Politik, denn das Versprechen eines Konzeptes für eine sichere sowie faire Öffnungsstrategie und damit für einen transparenten Plan zum Wiederhochfahren der Wirtschaft sei gebrochen worden.

Viele Einzelhändler bringe das in eine ausweglose Lage. So geben in der jüngsten HDE-Umfrage 57% der vom Lockdown betroffenen Einzelhändler an, ohne weitere staatliche Unterstützung das laufende Jahr nicht überstehen zu können. „65% der Innenstadthändler werden ihr Geschäft ohne weitere Hilfen in diesem Jahr aufgeben“, mahnt Genth.

Etwa 200000 Handelsunternehmen seien vom Lockdown betroffen. Pro geschlossenem Verkaufstag verlieren die Einzelhändler nach Angaben des Verbandes rund 700 Mill. Euro Umsatz. „Wir gehen von mindestens 50000 Insolvenzen und dem Verlust von mindestens 250000 Arbeitsplätzen aus“, sagte Genth – wenn nicht mehr staatliche Unterstützung erfolge.

750-Mill.-Grenze ist „Unfug“

Der HDE fordert deshalb die Anpassung der Überbrückungshilfen. „Für kleinere Händler muss die Möglichkeit zur Auszahlung eines Unternehmerlohns geschaffen werden“, so Genth. Dabei handelt es sich in überwiegender Zahl um Personengesellschaften. Auch eine kalkulatorische Miete müsste nach Ansicht Genths berücksichtigt werden. Zudem sollten die Abschreibungsmöglichkeiten für unverkäufliche Ware vereinfacht und auf die komplette Saisonware bezogen werden. Dazu zähle neben der explizit genannten Winter- auch die Frühlingsware, die aufgrund bestehender Verträge bereits geliefert wird, aber auch nicht verkauft werden kann. Einzelhändler mit einem Jahresumsatz von über 750 Mill. Euro sind von finanziellen Hilfen durch den Staat ausgenommen. Doch Genth fordert: „Auch größere Handelsunternehmen müssen die Unterstützung bekommen.“ Die Umsatzmarke von 750 Mill. betreffe in Deutschland 32 Filialhändler. Die Politik sei aber offenbar der Ansicht, diese Unternehmen seien groß genug, um sich selbst zu helfen – „was natürlich völliger Unfug ist“, so Genth. Die großen Händler belaste der Lockdown genauso wie die Mittelständler. Zudem sei die Limitierung der Überbrückungshilfen auf eine bestimmte Gruppe im Handel eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes.

Kritisiert wird auch die Deckelung der monatlichen Auszahlungsbeträge von 1,5 Mill. Euro je Unternehmen. Die Obergrenze nach EU-Richtlinien liege bei 12 Mill. Euro. Außerdem seien Abschlagszahlungen von 100000 Euro bei größeren Unternehmen „ein Tropfen auf den heißen Stein“, so Genth.

Dafür, dass die Überbrückungshilfe III erst jetzt beantragt werden kann, hat Genth kein Verständnis. In dieser Frage habe es „aus systemischen Gründen“ seit Dezember ein „Hickhack zwischen dem Wirtschafts- und dem Finanzminister“ gegeben. Der HDE-Geschäftsführer redete sich in Rage: Insgesamt sei es in puncto Wirtschaftshilfen „ein Armutszeugnis, das die Bundesregierung hier abliefert“.

Zudem sieht der HDE in der neuen Festlegung der Inzidenzzahl von 35 für eine Wiedereröffnung der Geschäfte keine nachvollziehbare Basis. Es sei völlig unklar, ob dies bundesweit oder auf Landes-, regionaler oder kommunaler Ebene gelten soll. Wie das Robert-Koch-Institut (RKI) mitteilte, ist die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland gestern auf 64,2 (Vortag: 68,0) weiter zurückgegangen. Der Wert gibt an, wie viele von 100000 Einwohnern innerhalb einer Woche rechnerisch neu positiv getestet werden. Indes fordert der Handel bereits bei höheren Zahlen als 35 oder 50 – diese Marke hatten Bund und Länder zuvor genannt – abgestufte Verfahren, bei denen z. B. Öffnungen mit strengeren Hygienevorgaben oder der Einkauf mit vorheriger Terminvereinbarung möglich sein sollen.

Die Branche habe mit ihren funktionierenden Hygienekonzepten – insbesondere im Lebensmittel-Einzelhandel – nachweislich dafür gesorgt, dass der Einkauf auch in Pandemie-Zeiten sicher ist. Deswegen hätte der Verband erwartet, dass man diese Hygienekonzepte zur Grundlage der Entscheidungen macht.

Kein Licht am Tunnelende

„Viele Händler wissen nicht mehr, wie es weitergehen soll“, beklagte Genth. „Die Situation ist oft aussichtslos: keinerlei Planungssicherheit, kein Licht am Ende des Tunnels und nach wie vor unzureichende staatliche Unterstützung.“ Die Händler seien im Lockdown gefangen, „und die Politik nimmt dies offenbar billigend in Kauf“, so Genth weiter.

In der Umsatzprognose für 2021 legt der HDE drei Szenarien zugrunde: eine Aufhebung des Lockdowns im März, im April und im Mai. Die sich daraus ergebenden Erlösveränderungen sind 0%, –4% und –6%, wobei im stationären Handel die Rückgänge jeweils stärker sind, während der Online-Handel weiter zweistellig zulegt (siehe Tabelle).

HDE-Prognosen für 2021
Umsatzveränderung im Vergleich zu 2020, in %
Szenario: Aufhebung des Lockdowns im …
MärzAprilMai
Einzelhandel 0− 4− 6
 Stationärer Handel − 2− 6− 9
 Online-Handel131415
Börsen-Zeitung