Corporate Governance

Konzerne rüsten sich für die neue HV-Saison

Thyssenkrupp startet in Kürze den Reigen der Aktionärstreffen, Siemens folgt auf dem Fuße. Auch im dritten Pandemiejahr werden die Rechte der Anteilseigner im virtuellen Format erheblich eingeschränkt.

Konzerne rüsten sich für die neue HV-Saison

Von Sabine Wadewitz, Frankfurt

Aktionäre müssen sich für eine dritte Hauptversammlungssaison in Pandemiezeiten rüsten. Den Auftakt macht Thyssenkrupp am 4. Februar, in guter Tradition folgt Siemens am 10. Februar. Angesichts der hohen Infektionszahlen in der Omikronwelle zeichnet sich ab, dass die Aktionärstreffen in der gesamten Saison auch in diesem Jahr virtuell ablaufen werden – von wenigen Ausnahmen abgesehen wie etwa Hypoport, die ihren Anteilseignern 2020 und 2021 Präsenzveranstaltungen ermöglicht hat. Die Möglichkeit, rein virtuelle Versammlungen abzuhalten, hat der Gesetzgeber vor dem Hintergrund der andauernden Pandemie bis Ende August 2022 verlängert.

„Eine physische Hauptversammlung lässt sich derzeit nicht sinnvoll planen“, sagt Simon Link, Partner der Kanzlei Hengeler Mueller, der Unternehmen und Investoren in gesellschafts-, konzern- und kapitalmarktrechtlichen Themen begleitet. Spätestens drei Monate vor dem Termin sei eine Entscheidung über das Format zu treffen, um genügend Zeit für die Vorbereitungen zu haben.

Fünf auf einen Streich

Mancher Aktionär könnte sich zur Beschaffung zusätzlicher Bildschirme veranlasst sehen, denn die Termine sind eng getaktet. So bitten am 29. April fünf Dax-Konzerne zur Live-Übertragung – von BASF und Bayer bis Vonovia. Am 12. Mai gehen sogar sechs Dax-Firmen auf Sendung – von Adidas bis Volkswagen.

Investoren fordern vehement interaktive Formate ein, somit richtet sich der Fokus darauf, welche zusätzlichen aktionärsfreundlichen Elemente geboten werden über den normierten Mindeststandard des Corona-Gesetzes hinaus. „Die Emittenten sind hin- und hergerissen zwischen rechtlichen Risiken und Komplikationen im Ablauf sowie dem Willen, es auch virtuell zu einer guten Veranstaltung zu machen“, sagt Hengeler-Anwalt Link.

Der Druck von der Investorenseite ist groß. In dem Kreis herrscht Verärgerung, weil Aktionärsrechte mit dem Übergang zum virtuellen Format erheblich eingeschränkt wurden. „Im dritten Jahr der Pandemie sollten die Hauptversammlungen dringend wieder aktionärsfreundlicher gestaltet werden. Dazu gehört vor allem auch die Bereitschaft von Vorstand und Aufsichtsrat, sich dem öffentlichen Dialog mit ihren Anteilseignern zu stellen“, fordert Jens Wilhelm, Vorstand der Fondsgesellschaft Union Investment. Bei virtuellen Hauptversammlungen habe bislang nur die Deutsche Bank die technischen Möglichkeiten der Live-Interaktion genutzt, indem sie den Aktionären schon in der vergangenen Hauptversammlungssaison ein Rederecht ermöglicht habe. „Das erwarten wir jetzt auch von den anderen Dax-Unternehmen“, sagt Wilhelm.

Hengeler-Anwalt Link rechnet indes mit wenigen Nachahmern. „Die Unternehmen wollen ihren Aktionären mehr Zusatzangebote zur Ge­staltung der Hauptversammlung machen, so weit wie die Deutsche Bank werden aber wohl nur wenige gehen“, vermutet er – „obwohl die Deutsche Bank damit gute Erfahrungen gemacht hat.“ Der Anwalt geht aber davon aus, dass mehr Unternehmen als im vergangenen Jahr zumindest Nachfragemöglichkeiten während des Aktionärstreffens schaffen werden.

Aktionäre vor der Kamera

Thyssenkrupp und Siemens gehen zum Auftakt nicht mit der ganz großen Geste voran, sie beschränken sich aber auch nicht auf die gesetzlich verlangten Mindeststandards. Beide Unternehmen veröffentlichen die Reden von CEO und Aufsichtsratschef einige Tage vorher online, damit die Anteilseigner in ihren schriftlich einzureichenden Fragen darauf eingehen können – diese Praxis wird inzwischen als Standard betrachtet. Thyssen und Siemens ermöglichen es ihren Anteilseignern zudem, Stellungnahmen in Textform oder als Video einzureichen, wobei sich die Aktionäre vor der Kamera kurzfassen müssen: Der Mitschnitt darf maximal zwei Minuten dauern. Beide Konzerne stellen in Aussicht, die Videobotschaften nicht nur im Aktionärsportal zugänglich zu machen, sondern sie auch während der Hauptversammlung einzuspielen – sofern es zeitlich nicht ausufert.

Dass deutsche Unternehmen anders als US-Konzerne so zögerlich sind, zum Beispiel Chat-Funktionen für einen Dialog in der virtuellen Hauptversammlung anzubieten, liegt aus Sicht von Link in dem strengeren deutschen Gesellschaftsrecht begründet. „Die Unternehmen fürchten Anfechtungsrisiken“, sagt der Anwalt. Diese könnten sich ergeben, wenn Gesellschaften auf virtuellem Wege mit einer Flut an Fragen konfrontiert würden und sie in der Beantwortung Prioritäten setzen müssten, um den zeitlichen Rahmen einzuhalten. „Die Sorge sitzt wirklich sehr tief.“ Einige Aktionäre würden durchaus aggressiv reagieren, wenn ihre Rechte in jedweder Form beschränkt würden. Das sieht im Ausland anders aus: „Der starke Fokus auf formale Fehler ist eine deutsche Besonderheit.“

Großes Thema in der anlaufenden Saison bleibt die Vorstandsvergütung. Die meisten Unternehmen müssen 2022 erstmals ihren Vergütungsbericht der Hauptversammlung zur Billigung vorlegen – ein Thema, in dem die Investoren sehr genau hinschauen. Nachdem der Kodex keine Tabellen mehr vorgibt, gab es Ende 2021 Debatten, in welcher Form über die Managergehälter informiert werden sollte. Der Gesetzgeber hat neue Begrifflichkeiten eingeführt, und es musste Ende 2021 auf den letzten Drücker erst ein Konsens mit den Abschlussprüfern gefunden werden, dass variable Vergütungskomponenten wie Jahresboni auch im neuen Regulierungsrahmen noch in dem Jahr gezeigt werden können, in dem sie erdient werden, auch wenn die Beträge technisch erst in späteren Jahren ausgezahlt werden.

„Die Diskussion hat große Wellen geschlagen“, erinnert sich Link. In der Vergütung schauen Investoren zudem verstärkt darauf, inwieweit ESG-Kriterien für die Höhe der Bezahlung relevant sind. „Detaillierte Best Practices, wie Nachhaltigkeit in der Vergütung zu berücksichtigen ist, müssen sich in der Praxis noch entwickeln.“ Die Unternehmen müssen nach den neuen Vorgaben auch eine Maximalvergütung nennen. Hier setzt Thyssenkrupp für die Vorstandsvorsitzende Martina Merz das Limit bei 9 Mill. Euro, Siemens erhöht das Maximum für CEO Roland Busch für den laufenden Turnus 2022 von zuvor 13,6 Mill. auf 15,3 Mill. Euro.

Say-on-Climate

Losgelöst vom Vergütungssystem wird es in den Hauptversammlungen nach Einschätzung des Anwalts eine große Rolle spielen, welche Nachhaltigkeitsstrategie die Unternehmen präsentieren. Es sei zu erwarten, dass Investoren mit Blick auf Klimawandel und Dekarbonisierung in jedem Fall schlüssige Konzepte verlangten. „Der im Ausland zu beobachtenden Trend des Say-on-Climate wird an uns sicher nicht spurlos vorübergehen“, sagt Link. Auch wenn es in Deutschland für Investoren nicht leicht ist, ESG-Forderungen etwa über eine Ergänzung der Tagesordnung zur Abstimmung zu bringen, werden sie Druck machen, dass der Vorstand der Hauptversammlung seine Pläne erläutert. Den Daumen senken werden sie gegebenenfalls über das Entlastungsvotum.

Unternehmen müssten sich auch darauf einstellen, dass aktivistische Investoren ESG-Themen als Hebel nutzen und sich zum Beispiel in Aufsichtsratsnominierungen einschalten, wie es etwa dem kleinen Hedgefonds Engine No. 1 bei Exxon eindrucksvoll gelungen ist. „Das dürfte künftig zum Standardrepertoire ihrer Kampagnen gehören“, erwartet Link.

Mehr Überraschungen in Aktionärsvoten könnten sich auch daraus ergeben, dass Vermögensberater mehr Mitspracherechte einräumen. So will BlackRock institutionellen Kunden von 2022 an die Möglichkeit eröffnen, in Hauptversammlungen direkt abzustimmen.

Über Gesetz und Governance-Kodex hinaus gehen auch die Forderungen von Stimmrechtsberatern und institutionellen Anlegern beim Thema Aufsichtsratswahlen. Die Forderung, die Amtszeiten auf vier Jahre zu begrenzen, ist für die Unternehmen nicht mehr neu. Viele haben der Verkürzung zähneknirschend nachgegeben, um die Wahl nicht zu gefährden. Es stellt die Gesellschaften aber vor das Problem, dass damit die Amtszeiten von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern auseinanderfallen. Deshalb werde vielerorts erwogen, die Satzung zu ändern, um das wieder zu vereinheitlichen. „Ich sehe noch keinen klaren Trend, wie Unternehmen damit umgehen“, sagt Link.

Reform auf dem Weg

Spannend wird es in der Frage, welchen Rahmen der Gesetzgeber künftig setzen wird. „Wir ermöglichen dauerhaft Online-Hauptversammlungen und wahren dabei die Aktionärsrechte uneingeschränkt“, so die Vorgabe im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung. Der bestehende Gesetzesrahmen würde bereits hybride Formate, also eine Kombination aus Präsenz und Online ermöglichen. „Unternehmen fürchten jedoch Risiken, weil es keine praktischen Erfahrungen gibt“, sagt Link. Um rein virtuelle Veranstaltungen auch außerhalb von Pandemiezeiten durchzuführen, müsste das Aktienrecht indes angepasst werden.

Für eine Reform der Hauptversammlung sind während der Pandemie schon viele Vorschläge unterbreitet worden – unter anderem von der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung. Link geht nicht davon aus, dass die neue Bundesregierung zum großen Wurf ansetzt, weil grundlegende Überlegungen viel Diskussion und Zeit beanspruchen würden. „Man wird sich auf die zusätzliche Möglichkeit der virtuellen Durchführung konzentrieren und dafür eine Regelung vorgeben“, meint er. Das Bundesjustizministerium will „zeitnah“ einen Gesetzentwurf vorlegen.

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