GRENZEN DES WACHSTUMS

Konzerne werden weltweit heimisch

Lokalisierung soll die globale Ausrichtung retten - Der Spagat zwischen Wertesystemen bereitet Schmerzen

Konzerne werden weltweit heimisch

Von Michael Flämig, MünchenMarc Vanheukelen ist wahrhaft kein Rabauke. Der Belgier hat Anfang des Jahrzehnts das Kabinett des damaligen Handelskommissars Karel De Gucht geleitet und fungiert seit dem Jahr 2015 als Botschafter der Europäischen Union bei der Welthandelsorganisation (WTO). Er ist also ein klassischer EU-Diplomat.Doch als Vanheukelen sich Mitte Dezember in Genf bei einem WTO-Treffen hinter verschlossenen Türen zur US-Handelspolitik äußerte, zog er blank. Vanheukelen brandmarkte die Vereinigten Staaten als Hauptverantwortliche für die “tiefe Krise” der Organisation. Die USA befänden sich im “Epizentrum” der Probleme, schrieb er in sein Redemanuskript. Wachstum im AuslandDie USA als Hauptverantwortliche für die Krise des Welthandels?Diese Feststellung mag heutzutage niemanden mehr überraschen. Doch es lohnt sich zu vergegenwärtigen, dass derlei Thesen vor nur fünf Jahren als haltloses Stammtischgerede abgetan worden wären. Die Globalisierung schien damals unumkehrbar. So handelte sich die Börsen-Zeitung vor dreieinhalb Jahren energischen Widerspruch ein, als sie in einem Leitartikel feststellte, “die Globalisierung, so wie wir sie kennen, kommt an ihr Ende”. Beide Beispiele zeigen, wie stark sich die Welt in einem halben Jahrzehnt verändert hat. Die Frage lautet: Wie können sich die Großkonzerne an den nun offensichtlichen Wandel anpassen?Klar ist: Die Internationalisierung von Warenhandel und Kapitalströmen hat die deutsche Wirtschaft insbesondere in den neunziger Jahren nach vorn katapultiert. Dies illustriert das Beispiel Siemens. Vom Jahr 1990 bis zum Jahr 2015 wurde der Anteil Deutschlands am Konzernumsatz mehr als halbiert (siehe Grafik). Der Anteil Asiens verdoppelte sich im gleichen Zeitraum, einen fast ebensolchen prozentualen Sprung legten die Münchner in den Vereinigten Staaten hin. Zugleich stieg der weltweite Umsatz auf mehr als das doppelte Volumen. Dies bedeutet: Während die Erlöse in Deutschland in absoluten Zahlen kaum zulegten, verdreifachten sie sich im Ausland. “Täglich Brot”Doch selbst im laufenden Jahrzehnt liefert das globale Geschäft Rückenwind, hat das Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen EY ermittelt. Innerhalb von fünf Jahren sei der Umsatz der 30 größten börsennotierten Unternehmen Deutschlands um gut ein Viertel gestiegen, stellten die Berater in einer Studie fest. Laut KPMG setzten 24 von 30 Dax-Konzernen mehr als 70 % ihrer Waren und Dienstleistungen jenseits der Grenzen ab. Mehr als 27 000 ausländische Tochtergesellschaften hätten die deutschen Unternehmen. Damit liege das Land weltweit an der Spitze.Welche Folgen Handelsrestriktionen für die deutsche Wirtschaft hätten, lässt sich trotzdem nicht allgemein beantworten. Eine Vielzahl von Dax-Unternehmen wäre vermutlich gar nicht oder kaum betroffen, erklärt DZ-Bank-Chefvolkswirt Stefan Bielmeier. Dazu gehörten Unternehmen wie SAP, Eon, RWE, Allianz, Fresenius oder Munich Re. Doch die Gewinnaussichten vieler exportorientierter Industriekonzerne stünden auf dem Prüfstand.Der Allianz-Vorstandsvorsitzende Oliver Bäte teilt diese Einschätzung, Zwar “sehen wir im Moment ein bisschen eine Rückabwicklung der Globalisierung”, erklärte er schon kurz vor der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Für viele global aufgestellte Unternehmen wie zum Beispiel Handelsgesellschaften sei die Situation schwierig. Als Versicherer sei die Allianz jedoch in mehr als 60 Ländern lokal verdrahtet. Sie operiere seit sehr vielen Jahren in schwierigen Umgebungen: “Für uns ist das, es hört sich etwas komisch an, täglich Brot.” Mit Blick auf den damals kurz zurückliegenden Putschversuch in der Türkei und die restriktive Reaktion der Regierung fügte Bäte hinzu: “Da gibt es 80 Millionen Menschen, die weiter ein ordentliches Leben führen wollen, und denen wollen und werden wir helfen.”Zwei Jahre später ist Lokalisierung auch für die Industriekonzerne der entscheidende Trumpf. Ob BMW-Chef Harald Krüger oder sein Siemens-Kollege Joe Kaeser: Sie alle rechnen gerne vor, mit wie vielen Beschäftigten und Fabriken sie beispielsweise in den Vereinigten Staaten präsent sind. Große Aufträge sind in vielen Ländern mit Fabrikneubauten vor Ort verbunden. Das Motto gegen das Ende der Globalisierung heißt: Wir sind in jedem Land ein einheimisches Unternehmen.Das Problem: Diese Logik stößt an ihre Grenzen, wenn die Renationalisierung der Politik dazu führt, dass sich die Wertesysteme in den einzelnen Ländern noch stärker auseinanderentwickeln. Zwar zeigten Großkonzerne schon immer eine kreative Flexibilität, sich an regionale Besonderheiten anzupassen, auch wenn sie nicht mit dem westlichen Regelverständnis in Einklang zu bringen waren. Doch in Zeiten des Internets wird dies weltweit transparent. Ein Spagat der Werte entsteht.Schmerzhaft hat es in diesem Jahr Siemens zu spüren bekommen, als die Frage zu beantworten war, ob Kaeser nach der Ermordung des saudischen Regimekritikers Jamal Khashoggi für eine Investorenkonferenz in das Land reisen sollte. Nach langem Zögern sagte er ab. Ein Multi-Milliarden-Auftrag wurde vorerst nicht unterzeichnet.