„Lieferdienste brauchen einen Einkaufspartner“
Von Helmut Kipp, Frankfurt
Der in Deutschland erst wenig verbreitete Online-Verkauf von Lebensmitteln erlebt im Zuge der Covid-19-Pandemie einen Boom. Start-ups wie Gorillas und Flink finanzieren den Aufbau ihrer Geschäfte über große Finanzierungsrunden mit Investoren. „Lieferdienste sind durch Corona relevanter geworden“, bestätigt Mathias Gehrckens, Geschäftsführer Products/Retail der Unternehmens- und Strategieberatung Accenture Deutschland, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Mit Eindämmung der Pandemie werde das zuletzt rasante Wachstum zwar wieder sinken, aber das Einkaufsverhalten werde sich nicht vollständig zurückentwickeln: „Viele Menschen haben gelernt, dass sie Einkäufe online bequem erledigen können.“
Jahre im Rückstand
Die Skepsis, ob Online-Supermärkte aussichtsreich sind, ist infolge der Pandemie in den Hintergrund getreten. Der Markt entwickelt sich schneller als erwartet. Im Vergleich zu anderen Liefermärkten wie Mode und Elektronik ist der für Lebensmittel aber noch um Jahre im Rückstand. Den Online-Marktanteil im reinen Food-Segment in Deutschland veranschlagt Gehrckens auf lediglich 1,5%. Einschließlich Tiernahrung und Drogerie-Sortimenten seien es noch knapp unter 4%.
Deutlich höher ist die Online-Durchdringung in anderen europäischen Ländern, allen voran Großbritannien mit etwa 11%. China kam im vergangenen Jahr auf 19%, geht aus einer Branchenstudie der Investmentbank Bryan Garnier hervor, Südkorea sogar auf 22%. Covid-19 sei ein „struktureller Beschleuniger“ für den Online-Food-Einkauf, sagt der Analyst Clément Genelot von Bryan Garnier. Nach dem Ausnahmejahr 2020 sei aber mit einem Rückgang der weltweiten Penetrationsraten im laufenden Jahr zu rechnen.
Perspektivisch ist laut Gehrckens eine Marktkonsolidierung zu erwarten, ähnlich wie bei den Essenslieferdiensten. Die stationären Einzelhändler müssten aufpassen, dass sie keine Kunden an die neuen Formate verlören.
Wie der Experte für die digitale Transformation des stationären Einzelhandels und Fachautor zum Thema Handel und Digitalisierung erläutert, verfolgen die Anbieter mit Blick auf Lieferschnelligkeit und Beschaffung unterschiedliche Strategien. Das niederländische Start-up Picnic und der Getränkedienst Flaschenpost, der zur Oetker-Gruppe gehört, arbeiteten nach dem Milchmann-Prinzip. Sie versuchten, mit Lieferungen in bestimmten Zeitfenstern die Routen zu optimieren, und verfügten über regionale Lager. Diese Anbieter deckten vor allem den Basis- oder den Wocheneinkauf der Kunden.
Gorillas und Flink hingegen versprechen ultraschnelle Lieferungen binnen zehn Minuten. Sie bauen dafür dezentrale Lager auf und stillen primär den kurzfristigen Bedarf. „Dieses Konzept funktioniert nur in Metropolen“, sagt Gehrckens.
„Wie die Venusfliegenfalle“
Zudem gebe es die klassischen Online-Angebote von Lebensmittelhändlern wie Rewe, die – anders als die meisten Konkurrenten – ein Vollsortiment anböten. Die auf Restaurantbestellungen fokussierten Lieferdienste Delivery Hero, die jüngst ihren Restart in Deutschland angekündigt hat, und Lieferando stiegen gerade erst in das Segment ein. „Das sind ernst zu nehmende Player, weil sie über riesige Riderflotten verfügen“, sagt Gehrckens. Die amerikanische Instacart habe sich stark in die Warensysteme der großen US-Handelskonzerne integriert, sei also der Home-Delivery-Arm der Retailer. Für die Einzelhändler sei das durchaus zwiespältig, weil die Kundenbindung geringer werde: „Das ist wie die Venusfliegenfalle.“ Amazon habe mit verschiedenen Ansätzen experimentiert, im deutschen Markt aber noch nicht das richtige Konzept gefunden.
Investoren haben zuletzt Hunderte Millionen Dollar in den Markt gepumpt. Im Juni schloss das Berliner Start-up Flink eine Finanzierungsrunde über 240 Mill. Dollar ab. Die aus Istanbul stammende Getir meldete sogar eine Runde über 550 Mill. Dollar. Wettbewerber Gorillas bastelt ebenfalls an einer weiteren Geldbeschaffung. In Medienberichten ist von einer Runde über bis zu 1 Mrd. Dollar die Rede. Dabei hat sich das Start-up erst im März 290 Mill. Dollar beschafft. „Auf Investorenseite herrscht hoher Druck, Geld in diesen Markt zu schieben“, sagt Gehrckens. Die Pandemie habe gezeigt, „dass es da ein Geschäft gibt“. England sei ein attraktiver Lieferservice-Markt, die USA ebenfalls. „Ob das auch für Deutschland gilt, muss sich noch zeigen.“
Gehrckens ist überzeugt, „dass die Lieferdienste einen Einkaufspartner benötigen, um zu überleben“. Denn nur so sei ein optimiertes Sourcing möglich. „Neben der Logistikmarge brauchen die Lieferanten eine Marge am Sortiment“, betont der Berater, der seine Berufslaufbahn bei Gruber, Titze & Partner begann, zu Booz Allen & Hamilton wechselte und dann in der Geschäftsführung der Döhler-Gruppe arbeitete. „Wenn sie einfach nur im Großhandel einkaufen und die Produkte zum Kunden fahren, können sie keine ausreichenden Deckungsbeiträge erwirtschaften.“ Picnic beispielsweise hat sich mit dem größten deutschen Lebensmittelhändler Edeka verbündet. Das Start-up soll der Online-Arm von Edeka werden. Auch Flink bewegt sich mit der jüngst angekündigten Partnerschaft mit Rewe in diese Richtung.
„Auf keinen Fall profitabel“
Während Gehrckens die strukturelle Gewinnfähigkeit von Konzepten wie Picnic und Rewe.de zuversichtlich beurteilt, sieht er die ultraschnelle Belieferung skeptischer: „Im Moment ist das ein Kampf um Marktanteile, der auf keinen Fall profitabel ist.“ Zudem würden Gorillas und Flink aufgrund des hohen Leistungsdrucks für die Rider und ihre niedrige Bezahlung unter Druck geraten. Bei Gorillas beispielsweise gehen Fahrer derzeit gegen die Arbeitsbedingungen auf die Barrikaden.
„Ohne Pick-Optimierung kann das Geschäftsmodell jedenfalls nicht erfolgreich sein. Aber wenn man sich mit einem großen Partner verbündet, der den Lieferdienst als zusätzlichen Absatzkanal ansieht, das Sortiment optimiert eingekauft wird und die Kunden merken, dass auch die Fahrt zum Supermarkt Geld kostet, dann kann das schon funktionieren“, meint Gehrckens.