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"Losgröße 1" heißt das Zauberwort von Industrie 4.0

Börsen-Zeitung, 6.2.2015 Die Digitalisierung der Wirtschaft hat zur Folge, dass Maschinen und Anlagen, aber auch Gegenstände des Alltags (wie Autos oder Haushaltsgeräte) miteinander über das Internet vernetzt werden. Das World Wide Web entwickelt...

"Losgröße 1" heißt das Zauberwort von Industrie 4.0

Die Digitalisierung der Wirtschaft hat zur Folge, dass Maschinen und Anlagen, aber auch Gegenstände des Alltags (wie Autos oder Haushaltsgeräte) miteinander über das Internet vernetzt werden. Das World Wide Web entwickelt sich zu einem “Internet der Dinge” und durch neu entstehende Services zu einem “Internet der Dienste” weiter. Neue Märkte und Geschäftsmodelle entstehen und damit auch zusätzliche Wachstumspotenziale für diejenigen Länder und Unternehmen, die diese neuen Möglichkeiten aktiv gestalten. Umgekehrt darf man nicht verkennen, dass disruptive Veränderungen auch Risiken für diejenigen Anbieter bergen, die sich nicht rechtzeitig auf die neuen Technologien einlassen. Dezentrale FertigungViele Experten glauben, dass wir uns derzeit an der Schwelle zur vierten industriellen Revolution (Industrie 4.0) befinden, weil die Digitalisierung Einzug in die Fertigung hält. In der intelligenten Fabrik der Zukunft (Smart Factory) verschmelzen die physikalische und die virtuelle Welt zu sogenannten “Cyber Physical Systems”. Methoden der künstlichen Intelligenz und der Robotik ermöglichen eine rasche Umstellung der Produktion auf neue Varianten.Auch die Produkte werden intelligent und bahnen sich weitgehend autonom ihren Weg durch die Fertigungsprozesse und sorgen für die eigene Instandhaltung. Mit Industrie 4.0 geht auch eine stärkere Dezentralisierung der Fertigung einher. Die Koordinierung von Produktentwicklung und Fertigung über verschiedene Standorte und Unternehmen hinweg wird erleichtert. Wertschöpfungsnetzwerke entstehen und lösen die herkömmlichen linearen Wertschöpfungsketten zwischen Zulieferern und Herstellern ab. Ende des Skaleneffekts?Hochflexible Fabrikationsanlagen werden individualisierte Produkte zu Herstellkosten einer Massenproduktion produzieren können. “Losgröße 1” heißt das Zauberwort, das weltweit Automatisierungsexperten aus Industrie und Wissenschaft elektrisiert. Auch auf der Hannovermesse in diesem Jahr steht die Zukunft der Fertigungsindustrie mit dem Leitthema “Integrated Industry” wieder im Mittelpunkt. Denn mittelfristig könnte dies bedeuten, dass es in vielen Branchen mit einem hohen Grad an Produktdifferenzierung keine Größenvorteile (“Economies of Scale”) mehr geben wird.Noch sind die Investitionskosten für die Entwicklung solcher Anlagen sehr hoch und es fehlt an einheitlichen Normen und Standards, um ein reibungsloses Funktionieren der digitalen Wertschöpfungskette über Unternehmensgrenzen hinweg sicherstellen zu können. Aber mittelfristig wird das Lohnkostengefälle, ein traditionelles Problem der Hochlohnländer, an Bedeutung für die Wahl eines Produktionsstandortes verlieren.Seit Jahren ist die Anzahl der in der Produktion beschäftigten Mitarbeiter in Deutschland rückläufig. Ganze Industriezweige haben in den vergangenen Jahrzehnten ihre Produktion ins Ausland verlagert, um vor allem Lohnkostenvorteile nutzen zu können. Bekleidung, Spielzeuge, aber auch Unterhaltungselektronik oder technische Standardprodukte werden überwiegend in Billiglohnländern hergestellt.Dieser Trend könnte in den kommenden Jahren durchbrochen werden, wenn es gelingt, die Chancen von Industrie 4.0 zu nutzen. Dies haben auch die USA und China erkannt und arbeiten ebenfalls mit Hochdruck an intelligenten Fertigungslösungen. Gleichzeitig wird sich das Anforderungsprofil für Tätigkeiten in der Produktion stark verändern. Der Bedarf an gering qualifizierten Arbeitskräften wird weiter abnehmen, weil der Anteil der steuernden Aktivitäten und die erforderliche Qualifikation in der Fertigung zunehmen werden.Wohin dies im Extremfall führen kann, sieht man in produktionsnahen Bereichen wie der Logistik. Das vollautomatische, nahezu menschenleere Hochregallager ist heute vielerorts schon Realität. Dies bedeutet auch, dass die Unternehmen erheblich in die Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter investieren müssen, um für Industrie 4.0 gerüstet zu sein.Aber auch die Bildungspolitik ist gefordert, junge Menschen durch entsprechende Angebote auf das neue Zeitalter vorzubereiten. Dies gilt nicht nur für die Spitzenförderung in den MINT-Fächern. Auch bei den geringer Qualifizierten wird bei den mathematisch-technischen Fähigkeiten ein höheres Niveau erreicht werden müssen, um zukünftig eine Beschäftigung in produktionsnahen Bereichen eingehen zu können. Alles smartTatsächlich hat Deutschland mit seiner überragenden Kompetenz in den Bereichen Maschinenbau, Prozessautomatisierung, Robotik und Informationstechnologie beste Voraussetzungen, um auf den Zukunftsmärkten von Industrie 4.0 eine Vorreiterrolle zu übernehmen. Dazu zählen intelligente Dienstleistungen im Gesundheitswesen (Smart Health), Konzepte für die Heimvernetzung (Smart Home) und auch die intelligente Steuerung von Energienetzen (Smart Grids). Relevanz für EU-ProgrammeDie Bundesregierung hat die Bedeutung von Industrie 4.0 für den Standort Deutschland frühzeitig erkannt und mit gezielten Programmen die Grundlagenforschung gefördert und die Entwicklung erster Anwendungsszenarien ermöglicht. Wichtig sind auch der konsequente weitere Ausbau der digitalen Infrastruktur (Breitband) und die Bereitstellung von Hochleistungsnetzen für die Industrie. Es wird nun darauf ankommen, dass diese Themen auch einen hohen Stellenwert in dem europäischen Investitionsprogramm erhalten, das von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im November 2014 vorgestellt wurde und ein Gesamtvolumen von etwa 315 Mrd. Euro umfassen soll.—-Dr. Volker Brühl ist Geschäftsführer des Center for Financial Studies (CFS), Frankfurt.In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——–Von Volker Brühl Mit Industrie 4.0 werden die Lohnkosten für die Wahl des Produktionsstandortes an Bedeutung verlieren.——-