Christian Meermann, Cherry Ventures

„Man sieht klar, dass die Hedge­fonds alle weg sind“

Die Berliner Cherry Ventures zählt in Europa zu den ersten Adressen für Gründer auf der Suche nach Seed-Kapital. Der jüngsten Bewertungskorrektur bei Techfirmen kann Cherry-Partner Christian Meermann deshalb auch Gutes abgewinnen.

„Man sieht klar, dass die Hedge­fonds alle weg sind“

Von Stefan Paravicini, Berlin

Als die Macher des Berliner Risikokapitalgebers Cherry Ventures vor ein paar Monaten eine E-Mail an die mehr als 70 Unternehmen in ihrem Portfolio schickten, war die Botschaft unmissverständlich: „Achtung, der Markt ändert sich extrem. Vergesst bitte, was wir und andere Investoren Euch in den vergangenen zwei Jahren gesagt haben. Ab jetzt gilt: Cash is king. Runway strecken bis Ende nächsten Jahres. Es geht nun um Stabilität und Profitabilität und nicht mehr nur um Wachstum“, fasst Christian Meermann, Founding Partner der auf Investments in der Seed- und Pre-Seed-Phase fokussierten Cherry Ventures, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung zusammen. Einige Wochen später warnte mit Sequoia auch eine der renommiertesten Venture-Capital-Gesellschaften aus dem Silicon Valley ihre Portfoliounternehmen, dass sich die stark eingetrübten makroökonomischen Rahmenbedingungen nicht kurzfristig verbessern würden, und stellte die Start-ups auf harte Monate ein. „Die Gründer stecken oft so tief im Tagesgeschäft, dass sie Veränderungen der Makro-Situation manchmal gar nicht wahrnehmen“, sagt Meermann, der vor etwa zehn Jahren zusammen mit Filip Dames – damals beide in führender Stellung bei dem Berliner Online-Versandhändler Zalando tätig – nebenher begann, sich als Angel Investor bei Start-ups zu engagieren und die Erfahrungen bei Zalando mit den Gründern zu teilen.

„Das war damals eher ein Hobby, das wir irgendwie spannend fanden, weil wir von vielen Gründern angesprochen wurden“, sagt Meermann. Mit Unterstützung der Zalando-Gründer sammelte er mit Dames 10 Mill. Euro für den ersten Fonds ein. 2016 folgte der Start mit Cherry Ventures als institutionellem Investor mit einem 150 Mill. Euro schweren Vehikel. Noch einmal drei Jahre später warb Cherry Ventures 175 Mill. Euro für einen neuen Fonds ein. Vor einem halben Jahr hat die Gesellschaft ihren bisher größten Fonds mit einem Volumen von 330 Mill. Euro an den Start gebracht.

Geschäftsmodelle im Fokus

Im vergangenen Jahr habe Cherry Ventures allen Gründern im eigenen Portfolio noch gesagt, dass sie so schnell wachsen müssten, wie es gehe, sagt Meermann. Denn bei Anschlussfinanzierungen war Wachstum für Investoren lange Zeit das einzige Kriterium. „Das hat sich jetzt komplett gedreht, ein gutes Ges­chäftsmodell mit gesunden Unit Economics steht klar im Vordergrund.“ Die Korrektur an den Märkten wirke sich vor allem auf Later-Stage-Finanzierungen in den privaten Märkten aus. „Man sieht sehr klar, dass die Hedgefonds, die den Markt in den vergangenen Jahren angeheizt haben, alle weg sind“, sagt der Cherry-Gründer.

Die Later-Stage-Firmen aus dem eigenen Portfolio seien gut auf die nächsten Monate vorbereitet. „Sie haben Ende des vergangenen Jahres alle noch einmal Geld eingesammelt. Das war im Nachhinein gesehen ein sehr gutes Timing, die haben Geld bis Ende nächsten Jahres und in einigen Fällen auch noch deutlich länger.“ Das gelte auch für den milliardenschwer bewerteten Berliner Express-Lieferdienst Flink, der anders als der Wettbewerber Gorillas bisher ohne Negativschlagzeilen durch den Ab­schwung gekommen ist. Auch Flink muss noch beweisen, dass das Geschäftsmodell der Express-Lieferdienste profitabel betrieben werden kann, räumt Meermann ein. Die Strategie des erfahrenen Gründerteams, das sich anders als die Konkurrenz auf wenige Kernmärkte konzentriert hat und mit starken Partnern aus dem Handel wie Rewe und Carrefour kooperiert, habe sich gerade unter den neuen makroökonomischen Rahmenbedingungen aber als richtig erwiesen.

Flink ist eine von fünf Firmen aus dem Portfolio von Cherry, die ihre Bewertung im vergangenen Jahr über die Milliarde geschraubt haben. Mit der Digitalspedition Forto, dem Online-Marken-Aggregator SellerX, den Vertical-Farming-Spezialisten von Infarm sowie Flink kommen vier dieser „Einhörner“ aus Berlin.

Auf der Suche nach dem nächsten potenziellen „Unicorn“ kommen Cherry Ventures die neuen Realitäten nach der jüngsten Bewertungskorrektur nicht ungelegen. „Im vergangenen Jahr war es teilweise so, dass wir am Dienstag mit einem Gründer gesprochen haben und uns bis Freitag entscheiden mussten“, sagt Meermann über die bis vor wenigen Monaten anhaltende Bonanza im Start-up-Ökosystem. Jetzt komme man sowohl bei den Bewertungsniveaus als auch bei dem Tempo, mit dem Deals abgeschlossen werden, zu den Bedingungen vor drei oder vier Jahren zurück. „Das ist jetzt wieder in einem gesunden Modus.“ Da trifft es sich gut, dass Cherry zum Jahresauftakt einen der größten Seed-Fonds für Europa mit einem Volumen von 300 Mill. Euro auf die Beine gestellt hat, der weitere 30 Mill. Euro für Beteiligungen an Kryptofirmen zur Verfügung hat. „Das ganze Geld ist noch da und wir können zu moderateren Bedingungen einsteigen“, sagt Meermann. Gute Firmen würden auch in Krisenzeiten gegründet, und jetzt habe man wieder bessere Einstiegspreise.

„Die Thesen des Fonds sind weiter intakt, wir werden uns aber noch stärker auf schnell profitable Geschäftsmodelle fokussieren“, sagt Meermann zum Suchraster des Fonds, mit dem Cherry unter anderem in Klimatechnologie, Agrartechnologie, Fintechs, E-Commerce und Softwarefirmen investieren will. Bei kapitalintensiven Geschäftsmodellen sei man unter den aktuellen Rahmenbedingungen vorsichtig. Bei Krypto-Themen gebe es derzeit ein „reinigendes Gewitter“, mittelfristig aber Chancen mit Blick auf die Themen Gaming und Fintech. Besonders hoch im Kurs stehen im aktuell schwierigen Fahrwasser erfahrene Gründerteams. „Wenn wir jetzt neu investieren, will man natürlich Gründer, die wissen, was sie erwartet, und eine Firma nachhaltig aufbauen können“, sagt Meermann.

Drei Dutzend Ziele gesucht

Insgesamt peilt Cherry Ventures mit dem Fonds rund 35 Beteiligungen an, wobei das initiale Ticket zwischen 500 000 und 5 Mill. Euro liegt und drei Fünftel der Mittel in dem Fonds für mögliche Folgeinvestments zurückgehalten werden. Die Investmentperiode läuft über drei Jahre, der Fonds ist auf eine Laufzeit von zehn Jahren angelegt und kann zweimal um ein Jahr verlängert werden, damit Cherry rund um Börsengänge von Portfoliounternehmen nicht unter Druck gerät. Die Renditeerwartungen liegen jenseits von 20 % pro Jahr, womit es Cherry im Wettbewerb mit anderen Venture-Fonds ins oberste Quartil schafft.

Die Mittel für den neuen Fonds kommen zu 70 % aus Nordamerika, vornehmlich von Stiftungen, Family Offices und Pensionskassen. „Die sind in den USA deutlich näher an der Assetklasse Venture Capital“, stellt Meermann fest. Ein Problem, das die Bundesregierung im Rahmen der neuen Start-up-Strategie unter anderem mit einer Mindestquote für Wagniskapital bei Pensionskassen angehen will. „Am Ende muss sich Deutschland fragen, ob wir Champions League oder vorne in der zweiten Liga spielen wollen“, sagt Meermann zur Mobilisierung von Risikokapital bei großen Kapitalsammelstellen wie Pensionskassen. Aber auch das Engagement von Family Offices in der Assetklasse sei hierzulande noch ausbaufähig. Cherry Ventures hat dennoch einige von ihnen für den neuen Fonds gewonnen und auch europäische Pensionskassen mit an Bord. Hinzu kommen Gründer aus dem eigenen Netzwerk, etwa von europäischen Tech-Firmen wie Zalando, Skype und Spotify sowie von Portfoliounternehmen wie Flixbus, Forto und Flink.

Cherry Ventures, die heute mit einem Team von etwa zwei Dutzend Venture-Spezialisten an eigenen Standorten in Berlin, London und Stockholm vertreten ist, sieht sich als erste Seed-Adresse für Gründer im deutschsprachigen Raum sowie in Skandinavien und will sich diese Position in ganz Europa erarbeiten. „Wir wollen, dass ein Gründer, der etwas Neues startet und überlegt, von wem er Geld in der Seed-Runde nehmen soll, an Cherry Ventures als seine beste Option denkt“, sagt Meermann. Doch Optionen haben Gründer heute viele. Es gebe mehr Venture-Fonds und das gesamte Umfeld sei viel professioneller und viel dynamischer als 2016 beim Start von Cherry Ventures, sagt Meermann. Auch die Mentalität der Gründer habe sich geändert. „Früher schauten die Gründer, welche erfolgreichen Ideen gibt es in den USA – das kopiere ich dann und verkaufe es an das Vorbild für 100 Mill. bis 200 Mill. Euro und bin damit zufrieden.“ Heute wollten die meisten Gründer sich eigene Milliardenunternehmen backen. Die Kirschen auf der Torte sollen im Portfolio von Cherry Ventures landen.

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