Organhaftung: Eine „stumpfe Waffe“ auch im Falle VW?
Anlass: Die Volkswagen-Hauptversammlung am 22.7.2021 behandelt auch mit den Tagesordnungspunkten 10 und 11 Fragen des Schadenersatzes der Ex-Vorstände Martin Winterkorn und Rupert Stadler im Zusammenhang mit der Dieselgate-Affäre. Angesichts der allein von den Aktionären getragenen Verluste des Dieselgate-Skandals von bisher schon über 32 Mrd. Euro ist ein genauerer Blick auf die Verfolgung dieser so schmerzhaften Entreicherung der Eigentümer zu werfen. Fällt die Remedur durch die Organe der Unternehmen und der befassten Gerichte wirklich überzeugend aus und haben die verantwortlichen Vorstände und Aufsichtsräte ihre Pflichten nachvollziehbar erfüllt?
Beim Thema Organhaftung wird häufig resümiert, es handele sich um eine stumpfe Waffe. Zwar sind die materiell-rechtlichen Voraussetzungen einer Schadensverfolgung gegenüber der Gesellschaft im Aktienrecht klar definiert: Vorstand und Aufsichtsrat haften bereits bei einfacher fahrlässiger Verletzung ihrer Sorgfalts- und Treuepflichten, wenn der Schaden und ein kausaler Zusammenhang nachgewiesen werden können. Nicht zu verfolgen sind durch die Business Judgement Rule gedeckte unternehmerische, also nicht rechtlich gebundene Entscheidungen. Der sogenannte „sichere Hafen“ gilt aber nur, wenn das Organmitglied „vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“.
Stumpf ist die Waffe nicht auf der materiell-rechtlichen, sondern häufig auf der prozessualen Ebene; denn „wo kein Kläger, da kein Richter“ mit Vermeidung möglicher Schadensersatzzahlungen durch pflichtwidrig handelnde Organmitglieder. Regelmäßig liegt das dann an Inaktivität oder geduldetem Vergessen. Hat beispielsweise, wie es jetzt auch im Fall VW sein könnte, der Aufsichtsrat durch seinen amtierenden Vorsitzenden Sachverhalte aus seiner aktiven Zeit als Vorstand aufzuarbeiten oder gegen amtierende Vorstände vorzugehen, so zeigt sich, dass die aktienrechtliche Regelung, dass die Gesellschaft durch den Aufsichtsrat bzw. den Vorstand (wechselweise bzw. überkreuz) zu handeln hat, selten zu einer überzeugenden Anspruchsverfolgung führt.
Im konkreten Fall ist auch zu prüfen, ob eine Geltendmachung der Organhaftung nur gegen einzelne Organmitglieder zulässig ist. Auf der diesjährigen VW-Hauptversammlung wird nun zum sechsten Mal über die Folgen des erst 2015 aufgedeckten Dieselgate-Skandals diskutiert. Dabei geht es auch um die Billigung der Aktionäre für die vom VW-Aufsichtsrat mit den Ex-Vorständen Winterkorn und Stadler ausgehandelten Vergleiche betreffend die vom heutigen Aufsichtsrat unter Vorsitz von (und in der fraglichen Zeit 2015 als Finanzvorstand amtierenden) Hans Dieter Pötsch vorgeschlagenen Schadenersatzzahlungen.
Winterkorn soll laut Haftungsvergleich 11,2 Mill. Euro Schadenersatz (davon Verzicht auf 4 Mill. Euro Boni für das Jahr 2016 nach seinem Ausscheiden) leisten. Das ist zwar der in Deutschland bisher höchste von einem Organmitglied im Wege des Regresses geleistete Betrag, der aber angesichts der Winterkorn für die Jahre 2010 bis 2014 von VW zugewandten Boni von über 75 Mill. Euro die einschlägige Wiedergutmachungsrelation früherer prominenter CEO-Fälle weit unterschreitet. Der von Stadler für den Vergleich zu leistende Beitrag von 4,1 Mill. Euro ist keine echte Zahlung, da er lediglich auf nach Aufdeckung des Dieselgate-Skandals zumindest diskussionswürdige Bonus- und Abfindungszahlungen verzichtet.
Wird damit also der gesamthaft erforderlichen Aufarbeitung der tatsächlichen Verantwortung aller 2015 agierenden Vorstände ausreichend Genüge getan? Die eindeutige Antwort ist nein. Wesentliche Motivation des VW-Aufsichtsrats für die jetzt von den Ex-Vorständen geforderte, aber natürlich nicht leistbare Schadenswiedergutmachung von fast 1 Mrd. Euro dürfte die von VW ebenfalls verfolgte Zahlung aus der D&O-Versicherung mit den jetzt genannten 270 Mill. Euro sein. Zwar könnte man diesen „Schachzug“ des heutigen VW-Aufsichtsrats zur Beendigung dieses unerquicklichen Teils des Dieselgate-Skandals als im Unternehmensinteresse liegend ansehen.
Vorgängig ist aber zu klären, ob nicht auch die weiteren Vorstandsmitglieder in der jetzt von VW für die Schadenersatzforderung genannten fraglichen Zeit vom 27.7.2015 (Datum des sogenannten „Schadenstischs“, einem Managertreffen wenige Wochen vor Auffliegen des Skandals) bis zum endlichen Eingeständnis der Dieselgate-Affäre durch VW am 22.9.2015 nicht nur aufgrund des Grundsatzes der Gesamtverantwortung oder eines möglichen Organisationsverschuldens schadenersatzpflichtig sind. Dafür besteht die durch die ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung bereits 1997 bestätigte Pflicht zur Geltendmachung des Schadenersatzanspruchs durch Aufsichtsrat und Vorstand. Ergänzend zu prüfen wäre bei belegbaren Haftungstatbeständen auch eine Aktionärsklage gemäß §148 AktG gegen Organmitglieder wegen Nichtverfolgung, wenn die Gesellschaft dazu erfolglos aufgefordert worden ist.
Für die jetzt aktuelle Vergleichsthematik ist nicht nur juristisch wichtig, streng zwischen der aktien-, d.h. privatrechtlichen und der strafrechtlichen Ebene zu trennen. So ist für die Geltendmachung eines möglichen aktienrechtlichen Schadensersatzanspruchs gegen Pötsch und Diess irrelevant, ob das strafrechtliche Verfahren im vierten Quartal 2020 zu defizitärer Kapitalmarktkommunikation gegen – von der Gesellschaft geleistete – Zahlungen von jeweils 4,5 Mill. Euro eingestellt wurde.
Anders als im auf die Ansprüche gegen Winterkorn und Stadler vom VW-Aufsichtsrat fokussierten, nach über fünf Jahren endlich vorliegenden Gutachten der Kanzlei Gleiss Lutz erscheint durch den nachstehenden, auch medial weitgehend bekannten Ablauf der für eine Kapitalmarktkommunikation relevanten Vorgänge eine Einbeziehung weiterer Vorstände angezeigt:
27.7.2015: Tagung des regelmäßig stattfindenden „Schadenstischs“ unter Führung von Winterkorn zusammen mit dem am 1.7.2015 neu als VW-Vorstand amtierenden Herbert Diess (der wohl anbot, sich aufgrund seiner BMW-Erfahrungen in die Verhandlungen mit den US-Behörden einzuschalten).
Anfang August 2015: Die in dem gemeinsamen Bericht des VW-Aufsichtsrats und Vorstands auf den Seiten 10 und 11 überhaupt nicht vorkommende Gutachten-Beauftragung der auf Kapitalmarkt- und Schadensfragen spezialisierten Washingtoner Kanzlei Kirkland & Ellis zielte darauf ab, die Höhe möglicher Strafzahlungen der US-Behörden für Dieselgate hinsichtlich der Notwendigkeit einer Ad-hoc-Kommunikation abzuklären. Laut Geschäftsordnung des VW-Vorstands war Pötsch als damaliger Finanzvorstand der Auftraggeber. Kritisch zu bewerten ist die Frage, auf welcher Grundlage Kirkland & Ellis gutachterlich dann eine nicht ad hoc meldepflichtige Strafzahlung ansetzte. Beruhte dies auf der Information von VW, dass das Dieselemissionsproblem mit den US-Behörden im „konstruktiven Austausch“ behandelt worden sei? Angesichts des von Kirkland & Ellis gutachterlich als auch für den Dieselgate-Fall relevant angesehenen Vergleichs der US-Behörden 2014 mit Hyundai/Korea mit ca. 100 Mill. Dollar und einem dagegenstehenden VW-Konzernertrag von mehr als 10 Mrd. Euro p.a. hätte es keiner Ad-hoc-Meldung bedurft. Auch aufgrund der Medienberichterstattung ist aber davon auszugehen, dass die damalige VW-Information einer konstruktiven Zusammenarbeit mit den US-Behörden eben nicht die jahrelange von VW geübte Praxis der Falschinformation über die nur auf dem Rollenprüfstand möglichen, drastisch niedrigeren Diesel-Emissionswerte und Nichteinhaltung von zugesagten Aufklärungen der Überschreitungen reflektierte. Es hätte dann aber einer Ad-hoc-Meldung bedurft – schon wegen der für wiederholte Täuschungshandlungen absehbaren Strafen, die der EPA-Mitarbeiter am 18.9.2015 auf insgesamt bis zu 18 Mrd. Dollar ansetzte.
3.9.2015: Der die Verhandlungen mit den Behörden ICCT, CARB und EPA führende USA-Vertreter von VW gab Dieselgate und die damit verbundenen Täuschungshandlungen zu; spätestens dann hätte VW den Kapitalmarkt gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 WpHG informieren müssen. Denn die im September 2019 vom VW-Aufsichtsrat anlässlich des strafrechtlichen Verfahrens gegen Diess und Pötsch gegebene Begründung, man habe sich auf das Gutachten von Kirkland & Ellis verlassen und wäre von der „Notice of Violation“ der US-Umweltbehörde EPA am 18.9.2015 überrascht worden, konnte angesichts der tatsächlichen Informationssituation im VW-Konzern keinen Bestand haben. Auch ein möglicher VW-Einwand der Verfolgung eines „gestreckten Sachverhalts“ gemäß §13 Abs.1 S.1 WpHG scheidet spätestens dann aus. Die Zurückhaltung einer zeitnahen Kapitalmarktkommunikation dürfte auch mit der kurz danach beginnenden Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt verbunden gewesen sein.
18.9.2015: Ankündigung durch die US-Behörden EPA und CARB einer Untersuchung zu einer „Notice of Violation“ aufgrund der Nicht-Bekanntgabe von VW, dass die 2013 und 2014 von der ICCT durchgeführten Tests bis zu 35-fach höhere Nitrogen-Oxid-Emissionen bei den VW-Marken Jetta und Passat aufwiesen. Die von VW hierfür genannten Gründe hätten sich als sämtlich falsch erwiesen.
22.9.2015: VW gibt erstmals öffentlich zu, die Emissionsbestimmungen mehrfach durch falsche Testmethoden in massiver Weise verletzt zu haben. Der Börsenkurs der VW-Aktie fiel um 40% auf unter 100 Euro pro Aktie.
Fazit: Zwar sollte das aktienrechtliche Organhaftungsregime für Vorstand und Aufsichtsrat de lege ferenda einer Reform unterzogen werden, um eine noch stärkere verhaltenssteuernde Wirkung zu entfalten. Wie dargestellt, muss die Organhaftung aber auch de lege lata kein stumpfes Schwert sein, wenn sie nur konsequent im Sinne der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung geltend gemacht wird.
Dabei ist auf alle nicht pflichtgemäß handelnden Organmitglieder abzustellen, statt wie nun bei VW einzelne, nicht mehr amtierende Vorstände herauszugreifen. Was die generell zu begrüßende, durch VW aber bisher angesichts intensiver anwaltlicher Bemühungen nicht gerade beschleunigte Beendigung der Dieselgate-Verfahren angeht, dürfte diese durch die anstehende Hauptversammlung angesichts der aufgezeigten Mitwirkung weiterer Vorstände kaum erreicht werden.