Pharmaindustrie hält Forschungstempo hoch

Medikamentenhersteller bringen in Deutschland 2020 mehr Produkte auf den Markt als im Vorjahr

Pharmaindustrie hält Forschungstempo hoch

Die Pandemie hat nicht zu einer Verringerung von Neuzulassungen im Pharmamarkt geführt. Nach Angaben des Branchenverbands VFA wurden in Deutschland 2020 den Patienten mehr neue Medikamente verfügbar gemacht als im Vorjahr. Quantensprünge gibt es nicht nur in der Abwehr von Covid-19. swa Frankfurt – Das Augenmerk ist derzeit vor allem auf die neuen Impfstoffe gegen die Covid-19-Pandemie gerichtet, doch die Pharmaindustrie macht auch bei anderen Produktzulassungen Tempo. Die Arzneihersteller haben im zu Ende gehenden Jahr “unvermindert viele neue Medikamente herausgebracht”, unterstreicht Han Steutel, Präsident des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (VFA).Der Verband zählt 32 Medikamente mit neuen Wirkstoffen, das sind sieben mehr als 2019. Dazu kamen zahlreiche Erweiterungen der Anwendungsformen von bereits eingeführten Mitteln sowie neue Darreichungsformen. Die meisten neu zugelassenen Produkte werden in der Bekämpfung von Krebs eingesetzt – es sind zehn neue Medikamente. Die zweithäufigste Zulassungszahl mit fünf Wirkstoffen betrifft Entzündungserkrankungen gefolgt von Infektionen, Blutbildungsstörungen und Stoffwechselkrankheiten mit jeweils vier neuen Produkten.Neben dem von Biontech und Pfizer entwickelten genbasierten Corona-Impfstoff, der seit wenigen Tagen in Deutschland verabreicht wird, hat auch der US-Pharmakonzern Gilead eine Zulassung seines Medikaments Remdesivir zur Behandlung von Covid-19-Infektionen erhalten. Bei Impfstoff und Infusionslösung gegen Corona handelt es sich nicht um übliche Markteinführungen, die beiden Produkte werden staatlich beschafft und nicht auf den regulären Vertriebswegen verkauft.Meilensteine wurden auch mit anderen Therapien gegen Infektionskrankheiten erreicht. So sorgte die im Rhein-Main-Gebiet ansässige Myr Pharmaceuticals zweifach für Furore. Das erst 2011 gegründete Unternehmen aus Bad Homburg brachte das erste Medikament gegen die schwere Leberentzündung Hepatitis D auf den Markt. Wenig später stand der US-Wettbewerber Gilead vor der Tür, um das Unternehmen für 1,15 Mrd. Euro zu übernehmen – erfolgsabhängig winken weitere 300 Mill. Euro. Das verschafft auch dem deutschen High-Tech-Gründerfonds einen Geldregen, in dem neben dem Bundeswirtschaftsministerium und der staatlichen Förderbank KfW drei Dutzend Industrieunternehmen investiert sind. Der kann den erfolgreichsten Exit seiner Geschichte für sich reklamieren und rechnet mit Rückflüssen im dreistelligen Millionenbereich.Eine neue Wirkstoffklasse ist auch gegen HIV auf den Markt gekommen, hebt der VFA hervor. Hier steht das kanadische biopharmazeutische Unternehmen Theratechnologies im Rampenlicht, das seit September auch in Deutschland ein Medikament zur Behandlung von multiresistenten HIV-Infektionen vertreibt. Das Produkt, der erste monoklonale Antikörper in der Indikation, gilt als das erste lang wirkende antiretrovirale Medikament zur Behandlung von HIV. Es kann eingesetzt werden, wenn bisherige Therapien nicht mehr ausreichend vor Aids schützen. Erfolge in SpezialgebietenEngagiert haben sich die Pharmahersteller nach Darstellung des VFA weiterhin in der Behandlung seltener Krankheiten: 13 der Medikamente mit neuem Wirkstoff haben Orphan- Drug-Status in der EU. Die im Jahr 2000 von der EU verabschiedete Verordnung für Medikamente gegen seltene Krankheiten motiviere Unternehmen weiterhin, auch Mittel gegen diese Erkrankungen zu entwickeln, sagt VFA-Präsident Steutel. Als selten stuft die EU Erkrankungen ein, die höchstens fünf von 10 000 Bürgern betreffen. Das gilt zum Beispiel für das Hepatitis-D-Medikament von Myr. An der Erbkrankheit Beta-Thalassämie leiden sogar weniger als einer von 10 000. Hier ist Bluebird Bio seit Januar mit einer Therapie in Deutschland im Markt. Das US-Unternehmen ist auf Gentherapien für schwerwiegende genetische Erkrankungen und Krebs fokussiert. Menschen, die an Beta-Thalassämie erkrankt sind, haben eine reduzierte Lebenserwartung und benötigen lebenslang alle 3 bis 4 Wochen Bluttransfusionen. Die Gentherapie von Bluebird soll es ermöglichen, durch eine einmalige Behandlung potenziell lebenslang unabhängig von Transfusionen zu werden.In der Behandlung von Krebs setzen sich personalisierte Ansätze weiter durch. Bei vier der zehn in diesem Jahr eingeführten Medikamente ist vor der Anwendung mit einem Gen-test zu prüfen, ob die Krebszellen des betreffenden Patienten eine bestimmte Mutation aufweisen, gegen die das Mittel seine Wirkung ausrichtet.