IM INTERVIEW: JUDITH WALLENSTEIN, BOSTON CONSULTING

Pharmakonzerne gehen in die Spezialisierung

Neue Herausforderungen für überproportionales Wachstum - "Enorme Chancen" im Selbstmedikationsmarkt

Pharmakonzerne gehen in die Spezialisierung

Kostendruck im Gesundheitswesen, höhere Anforderungen an die Wirksamkeit von Medikamenten und wachsende Konkurrenz in Schwellenländern stellen die Pharmaindustrie weltweit vor Herausforderungen. Die Branchenexpertin Judith Wallenstein, Senior Partner von Boston Consulting, geht davon aus, dass die Konzerne sich in diesem Umfeld stärker fokussieren werden. Unternehmen mit der höchsten Produktivität in der Forschung zeichneten sich durch tiefe Expertise in einzelnen Sektoren aus.- Frau Wallenstein, was sind die Trends in der Pharmaindustrie in den nächsten fünf bis zehn Jahren?Die großen Pharmakonzerne werden ihre Geschäftsmodelle sehr viel stärker differenzieren als in der Vergangenheit. Denn angesichts des zunehmenden Marktdrucks wird es in der Branche immer schwieriger werden, Wachstum zu erzeugen.- So schlecht steht die Pharma doch nicht da?Die Industrie hat in den vergangenen fünf Jahren in der Tat enormen Shareholder-Return erzielt. In der Durchschnittsbetrachtung allerdings nicht über Wachstum, sondern weil viele große Unternehmen die Patentausläufe für umsatzstarke Medikamente deutlich besser gemeistert haben, als es Investoren erwartet hatten. Doch nun stehen die Unternehmen unter dem Druck, nicht mehr nur Kosten zu senken und zu konsolidieren, sondern wieder Wachstum zu generieren – organisch oder über Akquisitionen. Um vorne mitzuspielen, müssen die Pharmakonzerne schneller wachsen als der Markt.- Wer werden die Gewinner sein?Gewinner werden die Konzerne sein, die sich vom Durchschnitt deutlich abheben können. Das ist bereits zu erkennen. Vor zehn Jahren zeichneten sich die führenden 15 Pharmaunternehmen zwar auch durch gewisse individuelle Schwerpunkte aus, doch ihre Portfolien waren ähnlich. Das waren in der Regel relativ breite Portfolien mit vergleichbaren Segmenten – oftmals ein Teil reifer Produkte, ein innovatives Segment, daneben frei verkäufliche Gesundheitsprodukte sowie Impfstoffe und Generika. Heute zeichnen sich die Unternehmen mit der höchsten Forschungs- und Entwicklungsproduktivität durch tiefe Sektorenexpertise aus.- Ein breites Portfolio sorgte ja aber auch für Risikostreuung.Natürlich, aber es war ein ähnliches Muster. Nun sind die Pharmaunternehmen gefordert, in einem begrenzten Markt bei hohem Wettbewerbsdruck in einzelnen Segmenten über dem Durchschnitt zu wachsen. Das verlangt klarere strategische Entscheidungen. Man erkennt dies bereits in den Konsolidierungsbewegungen der vergangenen Jahre.- Es werden nicht mehr nur große Unternehmen gekauft, sondern Teile von Portfolien getauscht.Boehringer Ingelheim trennt sich vom Selbstmedikationsgeschäft und gibt die Sparte an einen Wettbewerber, der dieses Segment kräftig ausbauen wird, und stärkt im Gegenzug ihr Geschäft mit der Tiergesundheit. Und Fokussierung findet natürlich auch jenseits des Portfoliotausches statt. So hat GlaxoSmithKline zum Beispiel einen großen Teil ihres konventionellen Onkologieportfolios abgegeben und sich auf selektive Bereiche in der Immunonkologie fokussiert.- Spezialisierung ist das Gebot der Stunde?Stark fokussierte Unternehmen haben in den vergangenen Jahren den höchsten Shareholder-Return erreicht. Diese Gesellschaften sind auf vier oder fünf Therapiegebiete konzentriert, manchmal sogar weniger. Wer mit sehr breitem Portfolio über dem Durchschnitt wachsen will, der braucht einen deutlichen Größenvorteil. Die Wahl ist nicht schwarz oder weiß: dass Unternehmen nur mit breiten Portfolios oder nur mit Hyperfokussierung erfolgreich werden können. Aber nicht für jedes Unternehmen passt unabhängig von Größe, geografischem Fokus und Portfolio dasselbe Erfolgsmodell. Mit einer mittleren Unternehmensgröße und breit gestreutem Portfolio kann man im Wettbewerb nicht in allen Segmenten mithalten. Das wird heute deutlich sichtbarer als früher.- Man kann also auch mit breitem Portfolio erfolgreich sein?Wenn Sie die Share-Price-Entwicklung des letzten Jahres betrachten, haben in der Tat einige der hoch fokussierten Unternehmen, die die Stars der letzten fünf Jahre waren, Verluste hinnehmen müssen, weil sehr starke Fokussierung eben auch die Risikoexposition erhöht. Gewinner waren in den letzten Monaten einige der Unternehmen mit breiteren Portfolios – allerdings in der Tat solche unter den Top 5 der Industrie mit starken Skalenvorteilen.- Wie entscheidend ist die Wahl des Therapiegebiets?Innerhalb der Therapiegebiete gibt es ebenfalls den Trend zu besserer Fokussierung, zumal die Anforderungen an die Wirksamkeit der Medikamente steigen und kosteneffiziente Lösungen in der klinischen Praxis eine immer größere Rolle spielen.- Können Sie ein Beispiel geben?Schauen wir auf die Immunonkologie. Das ist nur ein Bereich der Onkologie, der momentan von immer größerer Relevanz ist. Dieser Wirkansatz kann sicherlich das Rückgrat für eine Reihe vielversprechender Behandlungen sein, er verspricht aber allein keine Heilung von Krebs. Die Industrie muss mit ihren Produkten ein merklich längeres Leben der Patienten gewährleisten und nicht nur das Fortschreiten der Erkrankung für eine kurze Zeit aufhalten. Wie weit das über viele Tumorarten hinweg gelingen kann, ist noch nicht abzusehen. Entsprechend variieren die Schätzungen für den Markt der Immunonkologie, die für 2020 von 45 bis 100 Mrd. Dollar reichen. Absehbar ist allerdings, dass der Goldstandard der Immuntherapie in der Kombination gesetzt werden wird – mit konventioneller Radio- und Chemotherapie sowie mit klassischen monoklonalen Antikörpern.- Die Spezialisierung geht also in die Therapiegebiete hinein?Die Unternehmen fokussieren sich auf spezifische Technologieplattformen und Wirkmechanismen, in denen sie sich besonders gut auskennen. Das dient auch der Risikominimierung. Tiefes Detailwissen ist nötig, um in frühem Forschungsstadium abschätzen zu können, ob man auf dem richtigen Weg ist. Dies ist einer der Ansätze, die Produktivität in der Forschung und Entwicklung zu steigern – das war ja für viele Unternehmen in der Vergangenheit eine Schwachstelle.- Halten Sie die Immunonkologie für den größten Innovationsschritt in der Pharma derzeit?In der Onkologie gewiss, in weiteren Therapiegebieten gibt es andere Erfolge. Die Immunonkologie steht oft im Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit, weil es bei Krebs großen unerfüllten Therapiebedarf gibt. Auf die Aktivierung des Immunsystems setzt man auch in anderen Krankheitsgebieten, zum Beispiel in der Behandlung von Rheuma oder chronischen entzündlichen Magen-Darm-Erkrankungen.- Die Konsolidierung läuft aber auch im Segment der rezeptfreien Gesundheitsprodukte.Der Selbstmedikationsmarkt bietet enorme Chancen. In vielen Ländern ist das Selbstzahlersegment sehr etabliert. Es werden sich mehr Unternehmen auf sogenannte patientenzentrierte Innovationen spezialisieren. Hier geht es um Schmerzmittel oder Allergiepräparate oder in der Medizintechnik um Hörgeräte, Insulinpumpen oder Kontaktlinsen mit diagnostischen Eigenschaften. In dem konsumgetriebenen Segment ergeben sich kreative Möglichkeiten der Markenentwicklung und Kundenbindung – nach dem Vorbild großer Konsumgüterkonzerne. In solchen Kategorien hat die Pharmaindustrie in der Vergangenheit nicht gedacht.- Aber die Margen können in dem Segment nicht mit den innovativen verschreibungspflichtigen Medikamenten mithalten?Nein, aber man hat in der Selbstmedikation auch eine andere Risikostruktur. Wenn es einem Unternehmen gelingt, sich in frei verkäuflichen Kategorien unter den Top 3 anzusiedeln, kann es sehr hohe Absatzmengen erreichen, und der Lebenszyklus der Produkte ist nicht von der Patentlaufzeit beeinflusst. Das Gleiche gilt für einen erfolgreichen Switch von Medikamenten aus dem verschreibungspflichtigen in das rezeptfreie Segment.- Welche Chancen bieten Schwellenländer, die ja oft hohen Nachholbedarf in der Gesundheitsversorgung haben?Dort bieten sich große Wachstumsmöglichkeiten, doch mit anderen Mustern als heute. Traditionell sind internationale Pharmakonzerne mit reifen Produkten aus ihren Kernmärkten in Schwellenländer gegangen. Diese Strategie war durchaus erfolgreich. Doch inzwischen zeigt sich, dass lokale Anbieter etwa in China oder Brasilien zum Teil viel schneller wachsen, weil ihr Sortiment auf die regional relevanten Erkrankungen ausgerichtet ist. Und der wachsende Protektionismus vieler Staaten erhöht auch die Barrieren für internationale Unternehmen. Die internationalen Konzerne werden also vermehrt Partnerschaften mit lokalen Anbietern suchen. Man kann in Schwellenländern nicht das Gesundheitssystem der reifen Industriestaaten duplizieren.- Welche Signale gehen für die Pharmaindustrie vom Regierungswechsel in den USA aus?Der überraschende Sieg von Donald Trump und die Mehrheit der Republikaner in beiden Kammern werden ohne Zweifel zu Veränderungen im US-Gesundheitssystem führen. Wie genau aber die von Donald Trump im Wahlkampf angekündigten Änderungen an Obamacare aussehen werden und welche mittelfristigen Folgeeffekte das dann auf die Pharmaindustrie hat, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht eindeutig voraussagen.—-Das Interview führte Sabine Wadewitz.