„Resilienz gibt es nicht umsonst“
Joachim Herr.
Herr Sinn, wie schlägt sich die deutsche Wirtschaft in der Coronakrise?
Viele Unternehmen, besonders in der Industrie, bekommen das sehr gut hin. Die anfängliche Schockstarre dauerte nur kurz. Dann haben wir viel Dynamik, Agilität und Innovationen gesehen. Die Unternehmen haben insgesamt gut reagiert und schnell ihre Hausaufgaben gemacht.
Worauf kam und kommt es da an?
Besonders auf die Kombination, sich wetterfest und zukunftsfähig zu machen. Das braucht Mut, einen kühlen Kopf und konsequentes Handeln. Deutsche Unternehmen haben in dieser Krise mehr als je zuvor Entscheidungsfreudigkeit und Pragmatismus bewiesen. Das sollte man in die Zukunft mitnehmen. Ein Beispiel war vielerorts das schnelle Umstellen der IT auf die Arbeit im Homeoffice. In normalen Zeiten hätte es darüber tausendfache Debatten gegeben.
Resilienz ist derzeit das oft gehörte Zauberwort.
Unsere Beraterinnen und Berater diskutieren darüber mit den Kunden schon seit Beginn der Krise. Im Vorteil sind Unternehmen, die sich schnell und entschlossen weiterentwickeln. Wir unterscheiden vier Arten von Resilienz.
Welche?
Die finanzielle, also ausreichend Liquidität vorzuhalten, die strategische, zum Beispiel mit einem diversifizierten Geschäft, und die operative Resilienz, um etwa Lieferketten abzusichern. Hinzu kommt eine technologische Dimension, beispielsweise in puncto Cybersicherheit.
Dafür brauchen die Unternehmen aber Geld.
Ja, Resilienz gibt es nicht umsonst. Langfristig betrachtet hat sie aber einen positiven Effekt und wirkt wertsteigernd.
Wann kommt die erhoffte starke Konjunkturbelebung?
Der Aufschwung ist ja schon abzusehen, auch wenn das deutsche Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal um 1,7% geschrumpft ist. Für das ganze Jahr rechne ich mit einem Wachstum zwischen 3 und 4%. Je nach Branche gibt es allerdings ganz unterschiedliche Geschwindigkeiten.
Welche Branchen liegen vorn?
Die Gewinner sind seit Beginn der Pandemie dieselben: vor allem Kommunikationstechnik, E-Commerce, Medizintechnik und die Pharmaindustrie. Probleme haben nach wie vor große Teile des stationären Einzelhandels, die Gastronomie und der Tourismus. Zum Teil hatten diese Sektoren schon vor Corona strukturelle Schwierigkeiten. Für sie ist von einem Aufschwung noch nichts zu sehen. Es ist eher ein langgestrecktes Leiden. Die Pandemie verstärkt den Ausleseprozess und wirkt als Brandbeschleuniger.
Rechnen Sie mit einer Insolvenzwelle?
Ja, aber erst im nächsten Jahr. Die bis Ende April ausgesetzte Insolvenzantragspflicht in Deutschland hat schon 2020 einige Zombie-Unternehmen hervorgebracht. Eine Marktbereinigung wurde verhindert. Außerdem laufen die Überbrückungshilfen noch bis Juni und der vereinfachte Zugang zum Kurzarbeitergeld bis zum Ende dieses Jahres.
Welche Unternehmen wird es vor allem treffen?
Viele kleine und mittlere in den angesprochenen Problembranchen. Ich erwarte, dass die gesamte Zahl der Insolvenzen in Deutschland, die 2021 etwa 25000 betragen dürfte, sich im kommenden Jahr annähernd verdoppeln wird.
Werden Berater vor allem engagiert, um einen Stellenabbau im Unternehmen durchzusetzen?
Unsere Rolle ist, Rat für Strategien und Impulse für Veränderungen zu geben. Und es ist unsere Pflicht, notwendige Anpassungen von Geschäftsmodellen aufzuzeigen. Da kommt man in manchen Fällen an einem Stellenabbau nicht vorbei. Eine solche Entscheidung umzusetzen, ist aber für alle Beteiligten per se nie leicht.
Sind Berater der Vorwand für Unternehmensleitungen, um in der Belegschaft einen Stellenabbau zu rechtfertigen?
Das ist eher die alte Schule und gibt es vielleicht heute noch in der einen oder anderen Situation. Gefragt ist in erster Linie ein klarer Blick von außen. Dass wir als Alibi dienen, ist in aller Regel nicht der Fall.
Gewerkschaften und Betriebsräte beklagen sich, dass viele Unternehmen einen Stellenabbau durchziehen, der unter dem Deckmantel Corona geschieht. Was halten Sie von diesem Vorwurf?
Eine Krise ist oft der Katalysator, um einen in vielen Branchen überfälligen Stellenabbau einzuleiten. Die Unternehmen müssen an die Strukturen und an die Kosten ran. Einen notwendigen Abbau sozialverträglich zu gestalten, versteht sich von selbst.
Warum sind Restrukturierungen immer wieder notwendig?
Ein Paradoxon des Wachstums ist, dass es zunehmende Komplexität in Unternehmen mit sich bringt. Komplexität ist wiederum ein Killer für Wachstum. Das ist schwer in den Griff zu bekommen: Dinge verselbständigen sich, in großen Unternehmen entstehen Elfenbeintürme. Kontinuierlich muss gegen diese natürliche Entwicklung und Komplexität gearbeitet werden. Aber auch Veränderungen wie Automatisierung und Digitalisierung schaffen einen ständigen und massiven Druck auf Unternehmen, sich anzupassen.
Können sich Unternehmen auf Umbrüche wie eine Pandemie vorbereiten?
Zu einer guten Strategie gehört es, sich auf Krisenszenarien und deren Dimensionen vorzubereiten. Das sollte Standard sein. Da sind wir wieder beim Thema Resilienz und eingebauten Sicherheitsstufen.
Bewirkt die Coronakrise trotz viel menschlichen Leids und wirtschaftlicher Schäden Positives?
Das eine Jahr Covid-19 hat in Deutschland die Digitalisierung in vielen Branchen um zehn Jahre vorangebracht. Zudem war die Krise ein Katalysator für zentrale Zukunftsthemen wie Industrie 4.0, künstliche Intelligenz und Nachhaltigkeit. Lieferketten wurden überdacht, und Unternehmen überprüfen ihre Abhängigkeiten.
Wie beurteilen Sie die Arbeit der Bundes- und Landesregierungen in der Krise?
Wirklich beachtlich war, dass die Politik 2020 in den ersten Monaten der Pandemie sehr schnell reagierte, ein Krisenkonzept aufstellte und Hilfen gewährte. Im weiteren Verlauf ist sie allerdings steckengeblieben, als es an das Operative ging, besonders im Kontext von Testen und Impfen. Die Pandemie zeigt, dass der Staat hier an seine Grenzen stößt und nicht der beste Unternehmer ist. Für die nächsten Monate vermisse ich eine Strategie, wie es nach dem Impfen weitergeht. Ich habe die Sorge, dass wir unnötigerweise in die nächsten großen Diskussionen schlittern.
Das Interview führte