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Selbst Carsten Spohr steigt kaum noch in ein Flugzeug

Von Lisa Schmelzer, Frankfurt Börsen-Zeitung, 12.5.2020 Lufthansa-Chef Carsten Spohr verbringt derzeit viel Zeit in München. Dort lebt seine Familie und dorthin haben ihn die Maßnahmen verschlagen, die die Lufthansa im Sinne der politischen...

Selbst Carsten Spohr steigt kaum noch in ein Flugzeug

Von Lisa Schmelzer, FrankfurtLufthansa-Chef Carsten Spohr verbringt derzeit viel Zeit in München. Dort lebt seine Familie und dorthin haben ihn die Maßnahmen verschlagen, die die Lufthansa im Sinne der politischen Vorgaben zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie ergriffen hat – der Vorstand wurde räumlich aufgeteilt. Treffen finden nun öfter per Videokonferenz statt, in ein Flugzeug steigt Spohr derzeit kaum noch.Und damit ist er nicht allein. In Zeiten von Homeoffice und Reisebeschränkungen wird der Kontakt zu Geschäftspartnern und Kollegen über Videokonferenzen aufrechterhalten. Diese Entwicklung wird sich nach der Coronakrise vermutlich nicht komplett zurückdrehen lassen. Die modernen Kommunikationsmittel, die derzeit verstärkt genutzt werden, machen künftig sicher die eine oder andere Geschäftsreise obsolet. Dazu kommt, dass die Weltwirtschaft nach der Krise geschrumpft und auch die Globalisierung ein Stück weit zurückgedreht sein wird. “Das wird die Luftverkehrsbranche überproportional treffen”, fürchtet Lufthansa-Chef Spohr. Er und andere Airline-Chefs rechnen daher mit einem nachhaltigen Rückgang des Luftverkehrs auch nach der akuten Coronakrise.In die Lufthansa-Planung fließt diese Einschätzung bereits ein. Lufthansa werde innerhalb der nächsten Jahre “nicht zu den 763 Flugzeugen zurückkehren, die wir bis zum Ausbruch der Krise in Betrieb hatten”, kündigte der Lufthansa-CEO kürzlich an. Etwa 100 weniger werden es der aktuellen Planung zufolge sein. Außerdem geht Spohr davon aus, dass sich das Wachstum im Luftverkehr “noch dynamischer von Geschäftsreisenden hin zu Privatkunden verlagert”.Vor allem der erwartete Rückgang des Anteils an Geschäftsreisenden im Passagiermix könnte die Umsätze der großen Netzwerk-Airlines dahinschmelzen lassen. Nach Analysen des Airline-Verbands IATA aus dem vergangenen Jahr sind die Ticketpreise in den Premium-Klassen inklusive der Business seit 2011 deutlich weniger unter Druck geraten als die Billig-Tickets. Die Premium-Kunden machen global zwar nur 5,2 % aller Passagiere aus, stehen aber für 30 % der Umsätze. Über das genaue Preisverhältnis der einzelnen Buchungsklassen untereinander schweigen sich die Airlines aus. Als Faustregel gilt, dass ein Business-Passagier den Airlines so viel Gewinn bringt wie fünf in der Economy Class.Unternehmen wie Lufthansa werden sich angesichts dieser Gemengelage auch strukturell verändern. Einen ersten Schritt in diese Richtung hat der deutsche Airline-Konzern bereits gemacht und den endgültigen Abschied von der Tochter Germanwings angekündigt. Alle anderen Flugbetriebe sollen zumindest verkleinert werden, der ein oder andere könnte noch verschwinden.Die Unternehmensberatung Kearney rechnet für 2021/22 mit einem Nachholeffekt bei Privatreisen, während Kürzungen bei Geschäftsreisen zu einer “neuen Normalität” von minus 10 bis minus 20 % im Vergleich zur Zeit vor der Krise führen werden. “Insgesamt gehen wir davon aus, dass erst 2024 oder 2025 wieder das Vorkrisenniveau erreicht wird”, fasst Kearney-Partner Carsten Gerhardt zusammen.Während Unternehmen wie Lufthansa aktuell Szenarien für die neue Normalität nach der Krise entwickeln, geht es bei vielen Wettbewerbern angesichts des derzeitigen Stillstands nur noch ums nackte Überleben. Erste Fluglinien – die Luftfahrtgesellschaft Walter (LGW), Virgin Atlantic, Flybe sowie Tochterfirmen der angeschlagenen Norwegian Air – haben bereits Insolvenz angemeldet, viele andere könnten folgen.Für die Beratungsgesellschaft Avinomics gibt die Strategie einer Fluglinie den Ausschlag, ob sie die Krise überleben kann oder nicht. “Ein scharfer strategischer Fokus ist mindestens ebenso wichtig wie die Größe”, schreiben die Experten um Geschäftsführer Philipp Goedeking in ihrem jüngsten Outlook für die Airline-Branche. Wichtig sei zudem, welche Fluggesellschaft die einzelnen Märkte dominiert und “welche nur im Gefolge von Marktführern fliegen”. Die Untersuchungen von Avinomics haben ergeben, “dass die leistungsfähigsten Punkt-zu-Punkt- und Drehkreuz-Carrier in den letzten zwei Jahrzehnten nur 3 % der Insolvenzen ausmachten”. Selbst in diesen “noch nie dagewesenen Zeiten” bleibe die strategische Ausrichtung eine der wirksamsten Garantien zum Überleben. Krisen beschleunigten nur die Trennung der Spreu vom Weizen: Strategisch schlecht positionierte Fluggesellschaften werden früher und härter leiden. Kampf um WienErwartet wird, dass sich vor allem der nach wie vor stark fragmentierte europäische Markt als Folge der Coronakrise konsolidieren wird. “Wir erwarten in Europa eine 3 + 2-Konsolidierung”, heißt es beispielsweise bei den Kearney-Experten. Das bedeutet, dass die drei großen Netzwerk-Fluglinien (Lufthansa, IAG, Air France-KLM) und die beiden Punkt-zu-Punkt-Carrier Ryanair und Easyjet Marktanteile gewinnen werden, während andere Fluggesellschaften zusammenbrechen oder sich den Großen anschließen. Wobei die Situation durch Staatshilfen verzerrt wird.Der Verteilungskampf für die Zeit nach der Krise hat längst begonnen. Zuletzt wurde bekannt, dass sich der Airline-Konzern IAG bei der österreichischen Regierung als Alternative für das Drehkreuz Wien angeboten hat, falls die Lufthansa-Tochter Austrian Airlines aufgeben muss.