Siemens-Kerngeschäft hält sich wacker in der Krise
Siemens-Kerngeschäft hält sich wacker in der Krise
Schwäche des Automatisierungsmarktes verdeckt die Stabilität der Sparte Digital Industries im Wettbewerbsvergleich
mic München
Die Investoren schauen kritisch auf Siemens. Die Börse boomt, die Siemens-Aktie dagegen stagniert. Der Kurs steht auf dem Niveau des Jahresendes 2023. Der Dax hat im gleichen Zeitraum um 8% zugelegt. Der französische Wettbewerber Schneider Electric meldet sogar einen Kursanstieg von 25%.
Der Grund für die Underperformance: Bereits seit Februar zweifelte der Kapitalmarkt daran, dass der langjährige Siemens-Gewinnchampion Digital Industries seine Ziele für das Geschäftsjahr 2023/2024 (30. September) erreicht. Am 16. Mai kürzte das Management dann tatsächlich die Erwartung an die Sparte. Dies versetzte dem Aktienkurs zusätzlich einen herben Dämpfer, obwohl die Konzernprognose nicht angetastet wurde.
Digital Industries wird der aktuellen Prognose zufolge um maximal 8% schrumpfen, statt mindestens eine Stagnation zu erreichen. Die Gewinnmarge soll 18 bis 21% statt 20 bis 23% betragen. Finanzvorstand Ralf Thomas begründete die verschlechterten Aussichten mit einem langsamen Abbau der Lagerbestände insbesondere in China und mit einem starken lokalen Wettbewerb in unteren und mittleren Marktsegmenten.
Zyklisches Geschäft
Seitdem treibt die Anleger die Frage um, ob dies eine temporäre oder strukturelle Schwäche ist. Dies lässt sich unter zwei Blickwinkeln analysieren. Erstens: Verliert Siemens Marktanteile? Zweitens: Ist der Boom für die Aktivitäten von Digital Industries vorüber?
Die Antworten liefen ins Leere, würde die Analyse auf Zahlen der gesamten Sparte basieren. Sie enthält ein Softwaregeschäft, das voraussichtlich auch im dritten Quartal (30. Juni) floriert. Dieses Geschäft steht für ein Viertel des Spartenumsatzes 2022/2023 von 22 Mrd. Euro. Der Software-Boom führte im zweiten Quartal sogar dazu, dass der Auftragseingang dieser Aktivitäten erstmals mehr als die Hälfte der neuen Order ausmachte.
Die Fabrikautomatisierung dagegen ist schon immer ein zyklisches Geschäft. Seit der Pandemie sind die Ausschläge aber extrem. Im Schnitt melden die Aktivitäten von Anfang Oktober 2020 bis Ende März 2024 zwar ein Umsatzplus von 12% pro Quartal. Aber: Innerhalb von zwölf Monaten drehte dabei die Erlösentwicklung von +25% auf -20% im zweiten Quartal 2023/2024.
Trendwende bei Aufträgen
Ist die Talsohle durchschritten? Die Erlösentwicklung suggeriert 2024 einen aktuell ungebremsten Absturz. Diese Sichtweise führt in die Irre. Bei der Bewertung der prozentualen Veränderungen des zweiten Quartals 2023/2024 ist zu beachten, dass das Vorjahresquartal Rekordergebnisse für Digital Industries brachte.
Vor allem aber ist die Veränderung der Aufträge entscheidend. Das vierte Quartal 2022/2023 markiert den Tiefpunkt. Die Order schrumpften in Deutschland und Italien um 41%, in China um 33% und in den Vereinigten Staaten um 17%. Stabilisiert ist die Situation im zweiten Quartal 2023/2024 nicht, aber die Trendwende ist da: -17% meldet beispielsweise Deutschland, der für Digital Industries extrem wichtige Markt China steht bei -20%.
Es gibt es zwei Treiber für die Einbrüche. Kunden und Distributoren haben sich wegen der Lieferschwierigkeiten nach der Pandemie mit Ware vollgesogen. Siemens berichtet, dass in China die Abnehmer Produkte für 14 Wochen auf Lager hätten. Als normal gilt die Hälfte.
Der Pandemie-Folgeeffekt wird verstärkt durch einen zyklischen Abschwung. Die Erwartung sinkender Zinsen lassen Infrastrukturanbieter zögern, Darlehen aufzunehmen und neue Fabriken zu bauen. Dies gilt teils für die Automobilindustrie und insbesondere für den Maschinenbau. Doch ausgerechnet diese Branchen sind die zwei wichtigsten Umsatzbringer von Digital Industries. Sie stehen für 20 und 15% der Erlöse.
Stabil in China
Doch dies ist eine nur oberflächige Analyse, weil sie nicht deutet, ob gravierende hausgemachte Probleme diesen Umsatzrückgang treiben. Beispielsweise würden fehlende Innovationen oder schlechte Produktqualität zu einem Verlust von Marktanteilen führen.
Dies aber ist aktuell nicht erkennbar. Erster Indikator hierfür: Das Verhältnis von Auftragseingang zu Umsatz ist mit Werten unter 1 – die ein Schrumpfen andeuten – nicht nur bei Siemens niedrig. Rockwell Automation und ABB Robotics melden ähnliche Zahlen. Zudem reduzierte Rockwell Automation ebenfalls die Prognose für das Geschäftsjahr.
Zweiter Indikator: Siemens baut trotz schrumpfender Nachfrage die Marktanteile in der Absatzregion China aus. Die Anteile lagen für fast alle Hauptprodukte der Fabrikautomatisierung im ersten Quartal 2024 über den Durchschnittswert der vergangenen sechs Jahre, hat das Research der Deutschen Bank ermittelt. Bei großen speicherprogrammierbaren Steuerungen beispielsweise landet Siemens bei 52% nach durchschnittlich 51%, für Panels als Benutzerschnittstellen Mensch/Maschine sind es rund 32% statt 28%. Misserfolge sehen anders aus.
Warum aber schneidet Schneider Electric so viel besser am Kapitalmarkt ab? Die Antwort: Der französische Elektrotechnik-Konzern macht nur ein Fünftel seines Konzernumsatzes mit der Fabrikautomatisierung, während Siemens – bezogen auf das industrielle Geschäft ohne Siemens Healthineers – auf fast ein Drittel kommt, hat Bloomberg Intelligence ermittelt.
Schneider Electric im Vorteil
Die Research-Abteilung rechnet Schneider dagegen einen Umsatzanteil von 79% im gut laufenden Elektrifizierungsgeschäft zu. Ein Booster ist der hohe Umsatzanteil mit Rechenzentren, die vom Trend zur Künstlichen Intelligenz profitieren. Schneider erzielt dort laut Bloomberg Intelligence 17% der Erlöse, Siemens nur 1%.
Dieser andere Schwerpunkt zahlt sich aus. Für Siemens kommt erschwerend hinzu: Im zweiten Quartal steckten insbesondere jene Produkte in den Lagerhallen der Kunden, die konzernintern als hochmargig gelten. Dies drückte den Gewinn zusätzlich, weil der neue Absatz dieser Produkte stockte. Dagegen wirkt sich das Gegensteuern durch Kapazitätsanpassungen nur langsam aus.
Weiterhin ein Megatrend
Hat die Fabrikautomatisierung also ihre besten Zeiten hinter sich? Gewiss nicht. Fabrikation muss weltweit angesichts gerissener Lieferketten umgebaut werden. Klimaneutrale Lösungen sind ein Muss. Staatliche Anreizprogramme für Infrastrukturprojekte schaffen regional neue Nachfrage. Der Fachkräftemangel sorgt in Europa und China für einen zusätzlichen Automatisierungsschub. Zudem entstehen Industrien rund um Elektromobilität und Künstlicher Intelligenz.
Die Markterholung ist keine Frage des „Ob“, sondern des „Wann“. Ein abrupter Aufschwung ist nicht erkennbar, aber eine graduelle Erholung. Siemens berichtet über das dritte Quartal am 8. August. Der Vorstand hat Mitte Mai die Erwartungen nolens volens nach unten geführt. Nun ist Raum für positive Neuigkeiten.