GASTBEITRAG ZUR SERIE INTERNET DER DINGE (TEIL 10)

Software wird zur Königsdiziplin

Börsen-Zeitung, 5.7.2017 Für diesen ersten Satz werden Sie als geübter Zeitungsleser rund vier Sekunden benötigt haben. In dieser Zeit sind weltweit rund 500 neue Geräte ans Netz gegangen; jede Sekunde allein 127. Die meisten dieser Geräte werden im...

Software wird zur Königsdiziplin

Für diesen ersten Satz werden Sie als geübter Zeitungsleser rund vier Sekunden benötigt haben. In dieser Zeit sind weltweit rund 500 neue Geräte ans Netz gegangen; jede Sekunde allein 127. Die meisten dieser Geräte werden im weitesten Sinne Computer sein, wie wir sie kennen: Smartphones, Tablets, smarte Uhren oder Fitnessarmbänder, die ihre Daten in die Cloud funken. Doch in Zukunft werden Dinge ans Internet “angeschlossen”, die so gar nichts mit klassischen Computern zu tun haben.Das Potenzial für dieses Internet der Dinge (Internet of Things – IoT) ist riesig: 10 Millionen Haustiere in Deutschland könnten mit intelligenten Sensoren versehen werden, die Position und Gesundheitsdaten an Herrchen und Frauchen funken. Handtaschen und Koffer könnten so überwacht werden und nicht mehr verloren gehen. 40 Millionen Autos in Deutschland könnten durch Vernetzung untereinander und mit der Infrastruktur Informationen austauschen. MilliardenmarktHinter dieser Vernetzung steckt ein gigantischer Markt. Im Jahr 2020 beläuft sich das Marktvolumen nach einer McKinsey-Studie aus dem vergangenen Jahr auf insgesamt 23 Mrd. Euro. Denn neben den denkbaren Anwendungen im Gesundheitswesen (2,8 Mrd. Euro Potenzial), bei der Vernetzung unserer Städte (3,4 Mrd.) und dem für die deutsche Autoindustrie so wichtigen Connected Car (3,8 Mrd.) ist es vor allem die Digitalisierung der Fertigung, die in Deutschland unter dem Stichwort Industrie 4.0 mit Hochdruck vorangetrieben wird. 8,9 Mrd. Euro ist allein dieser Bereich im Jahr 2020 schwer.Das Internet der Dinge im Fabrikumfeld ist keine ganz neue Entwicklung. Bereits in den vergangenen Jahren haben wir durch Digitalisierung eine schrittweise Produktivitätssteigerung gesehen – zum Beispiel allein dadurch, dass Prozesse, die vorher papierbasiert waren, auf digitale Instrumente umgestellt wurden. So werden Anleitungen für Maschinen nicht mehr in dicken Handbüchern zusammengefasst, sondern der Maschinenführer bekommt auf einem Tablet genau die Informationen präsentiert, die in der aktuellen Nutzungssituation wichtig für ihn sind – das spart Zeit und minimiert Fehler. Auch in der Logistik ist die Vernetzung etabliert. Über RFID-Chips wissen alle Teilnehmer einer Wertschöpfungskette, wo sich beispielsweise wichtige Ersatzteile gerade befinden. IoT nimmt Fahrt aufFünf Faktoren sorgen nun aber dafür, dass das IoT stärker Fahrt aufnimmt:Bezahlbarkeit: Die Kosten für die Vernetzung von Maschinen nehmen dramatisch ab. Wir erwarten eine Preisreduktion um 50 % für einen IoT-Knoten – also die technische Grundlage für die Vernetzung – bis 2020.Kundennutzen: Kunden – sowohl aus dem B2B- als auch aus dem B2C-Bereich – beginnen, die Vorteile der Vernetzung zu schätzen und entsprechende Anwendungsfelder zu entwickeln.Datenregulierung: Die rechtlichen Rahmenbedingungen für das IoT werden sukzessive angepasst.Tools: Durch Entwicklungen v. a. im Softwarebereich stehen immer bessere und leichter zu bedienende Anwendungen zur Verfügung.Sicherheit: Gerade wegen der stärker werdenden Cyberattacken – das Thema Sicherheit ist auf Vorstandsebene angekommen.All diese Faktoren führen dazu, dass das Thema IoT stärker in den Fokus genommen wird. Und die Entwicklung hört nicht auf: Ein Thema mit großem Potenzial ist die vorausschauende Wartung, “Predictive Maintenance”. Hier geht es darum, durch das Auslesen von Sensordaten aus einer Maschine einen möglichen Ausfall frühzeitig vorherzusagen. Das entsprechende Bauteil kann dann ersetzt werden, bevor es kaputt geht. Und Wartungsintervalle können – statt nach einem starren Zeitplan vorgenommen zu werden – auf den tatsächlichen Verschleiß abgestimmt werden. Dies hört sich trivial an – ist jedoch in der Analytik der Maschinendaten durchaus komplex. Start-ups wie Relayr aus Deutschland, die in diesem Umfeld innovative Lösungen anbieten, haben das Interesse vieler etablierter Unternehmen geweckt.Neben Predictive Maintenance sind auch andere Anwendungen denkbar: Energiesparmaßnahmen wie intelligente Beleuchtung in Fabriken, die auf Anwesenheit von Personal reagiert, werden aktuell in vielen Fertigungsumgebungen eingeführt. Losgröße 1Machen die bisherigen Möglichkeiten von IoT in der Fertigung die bestehende Produktion noch effizienter, könnten in Zukunft durch die Vernetzung ganz neue Geschäftsmodelle entstehen. Denkbar sind viel kleinere Losgrößen bis hin zu Losgröße 1 – also eine totale Individualisierung der Produktion. Hoch automatisierte Fertigungsanlagen, die in Echtzeit Online-Kundenbestellungen entgegennehmen und verarbeiten, sind keine Science-Fiction mehr. Erste Ansätze in dieser Richtung gibt es beispielsweise bei der Produktion von maßgeschneiderten Turnschuhen – übrigens made in Germany.Insgesamt ist Deutschland beim Thema Industrie 4.0 im internationalen Vergleich sehr gut positioniert. Nach dem ersten Hype und der darauffolgenden Ernüchterung, dass doch nicht über Nacht durch digitale Tools die gesamte Produktion einfacher, schneller und günstiger wird, haben wir nun die Phase des “pragmatischen Optimismus” erreicht. Viele Unternehmen haben sich einen klaren Fahrplan gegeben, Industrie 4.0 umzusetzen, und experimentieren bereits mit konkreten Anwendungen, die einen wirtschaftlichen Mehrwert schaffen.Dennoch muss Deutschland weiter dranbleiben: Denn durch die Vernetzung verschiebt sich die Wertschöpfungskette: An der Spitze wird langfristig nicht mehr der Hersteller der Hardware – also beispielsweise der Maschinenbauer – sitzen, sondern derjenige Wettbewerber, der ein Gesamtsystem aus Kundenschnittstelle, Datenanalyse, Produktion und Service abbildet. Software wird zur Königsdisziplin – und das in einem potenziell riesigen Ökosystem, in dem Tausende Entwickler an neuen Anwendungen arbeiten. Dies ist vergleichbar mit den beiden großen Ökosystemen aus dem Smartphonemarkt mit iOS (600 000 Entwickler) und Android (1 Million Entwickler). Nachholbedarf erkanntWährend in diesem B2C-Umfeld Deutschland deutlich hinterherhinkt, ist in der Digitalisierung des B2B-Bereichs der Zug noch nicht abgefahren. Deutsche Unternehmen haben ihren Nachholbedarf erkannt und steuern mit der gezielten Anwerbung von Softwarespezialisten oder gar mit der Übernahme ganzer Softwarehäuser gegen. Auch eine grundsätzliche Offenheit für Partnerschaften innerhalb der Branche – wie wir sie z. B. in der Autoindustrie sehen – und Kooperationen mit Start-ups sind ein erfolgversprechender Weg. Diesen Weg gilt es entschlossen, neugierig und mutig weiterzugehen.—-Zuletzt erschienen:- General Electric will ein Softwarekonzern sein (4.7.2017)- Japan will kräftig mitmischen (29.6.2017)- Die neue Intelligenz der Städte (27.6.2017) —-Dominik Wee, Partner bei McKinsey, zuständig für die Digitalisierung der Automobil- und Fertigungsindustrie.